Seite:Kinder und Hausmärchen (Grimm) 1856 III 302.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
9. Eselshaut (Peau d’âne). Pentamerone die Bärin (2, 6), im deutschen Allerlei-Rauh (Nr. 65).
10. Die kluge Königstochter (L’adroite princesse). Im Pentamerone Sapia Liccarda (3, 4).
11. Die lächerlichen Wünsche (Les souhaits ridicules) in Versen. Enthält den letzten Theil des deutschen Märchens von dem Armen und Reichen (Nr. 87).


Gräfin Aulnoy.

Die auch durch andere Arbeiten bekannte Gräfin Aulnoy (geb. 1650, gest. 1705) lebte zugleich mit Perrault. Sie muß ihre Märchen, wenigstens einen Theil derselben, nach der Erscheinung der seinigen, mithin in ihren spätern Jahren, geschrieben haben, da sie in La chatte blanche (Nr. 19) die Peau d’âne, die Belle au bois dormant und Chat botté anführt, unter den beiden letztern aber ganz gewiß Perraults Märchen meint. Nachgeahmt indessen hat sie ihn nicht, ihre Sammlung ist beides schlechter und besser. Schlechter insofern, als darin die Überlieferungen weniger treu beibehalten und Zusätze, Erweiterungen, Verse, moralische Betrachtungen eingemischt sind, überhaupt der Stoff willkürlicher behandelt ist. Überlieferungen aber liegen einem großen Theil dieser Märchen so gut zu Grund als bei Perrault, und die andern rein erfundenen unterscheiden sich durch Mangel an Gehalt leicht davon. Ein recht merkwürdiger Beweis ist eins der schönsten, der blaue Vogel, da es sich in den Gedichten der Marie de France, die schon im Anfang des 13ten Jahrh. lebte, unverkennbar wieder findet; es ist der Lai von Ywenec (272–313.), eine gallische Sage, die mithin bis zum 18ten Jahrh. auf französischem Boden fortgedauert hat. Nur die drei letzten (Nr. 22. 23. 24) sind aus dem durch eine französische Übersetzung eingeführten Straparola genommen; man sieht leicht daß sie verändert sind und aus welchem Grunde. Die Manier der Aulnoy kann man nicht ungeschickt nennen, im Gegentheil, es zeigt sich eine gewandte, schon geübte Hand; manches ist liebenswürdig erzählt und manches naiv und kindlich ausgedrückt, dennoch konnten diese Märchen nicht allgemein Eingang finden, weil sie nur für Kinder des höheren Standes zu welchem die Verfasserin gehörte, paßten. Es ist zu viel Zier und Kostbarkeit, auch wohl französische Sentimentalität

Empfohlene Zitierweise:
Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 302. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_302.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)