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Zeit Moos auf ihr gewachsen war, daß sie fast dem Holze glich. Zuletzt aber erkannten sie die Gestalt ihres Leibes und berichteten ihrem Herrn da in einem hohlen Baum sitze ein Thier von menschlicher Gestalt, rühre sich nicht und gebe keinen Laut von sich. Der Fürstensohn gieng hinzu und befahl sie herauszunehmen; sie ließ alles geschehen, rührte keine Stimme nicht. Als sie nun anfiengen das Moos von ihr abzunehmen und sie zu reinigen, kam ihr weißes Gesicht zum Vorschein und das Kreuz auf der Stirne, daß der Fürst über ihre große Schönheit erstaunte und sie in allen Sprachen die er nur wußte, anredete, um zu hören wer sie wäre und wie sie dahin gerathen. Allein auf alles blieb sie stumm als ein Fisch, und der Fürst nahm sie mit sich heim, übergab sie den Kamerfrauen und befahl sie zu waschen und zu kleiden, welches vollkommen nach seinem Willen geschah. War sie nun vorher schön gewesen, so strahlte sie in den reichen Kleidern wie der helle Tag, nur daß kein Wort aus ihr zu bringen war. Nichtsdestoweniger setzte sie der Fürst über Tisch an seine Seite und wurde von ihrer Miene und Sittsamkeit aufs tiefste bewegt, und nach einigen Tagen begehrte er sie zu heirathen, keine andere auf der Welt. Seine Mutter widersetzte sich dieser Vermählung zwar heftig, indem sie äußerte man wisse ja doch nicht recht ob sie Thier oder Mensch sei, sprechen thue sie nichts und begehre nicht es zu lernen, und von einer solchen Ehe stände nichts wie Sünde zu erwarten. Allein keine Einrede half, der König sprach „wie kann man zweifeln daß sie ein Mensch ist, die eine engelschöne Gestalt hat und deren edle Abkunft das Kreuz auf ihrer Stirne verräth?“ Mithin wurde das Beilager in Schmuck und Freuden vollzogen.

Als Gemahlin des Fürsten lebte sie sittsam und fleißig in ihrem Kämerlein, arbeitete an dem Geräthe fort, das ihre Brüder aus dem Bann erlösen sollte. Nach einem halben Jahr, als sie gerade schwanger gieng, mußte der Fürst in den Krieg ziehen und befahl seiner Mutter daß sie seine Gemahlin wohl hüten sollte. Aber der Mutter war seine Abwesenheit gerade recht, und als die Stunde der Niederkunft kam und sie einen bildschönen Knaben gebar mit einem güldnen Kreuz auf der Stirne, wie sie selber hatte, gab die Alte das Kind einem Diener mit dem Befehl es in den Wald zu tragen, zu morden und ihr zum Zeichen die Zunge zu bringen. Dem Fürsten schrieb sie einen Brief, worin stand seine Gemahlin die man selbst

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_083.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)