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Ein paar Schnäbel voll hatte der erste Rabe genommen, sprach er „sonderbar, meines Fraßes ist etwas minder, als es sein sollte, aber es schmeckt als wie von Menschenhand gekocht“. „Mir gehts auch so“, sagte der zweite, „wie wenn unser Schwesterchen da wäre?“ „Ach“, fiel der dritte ein, „die an all unserm Elend schuld ist, wir hackten ihr die Augen aus“. „Was kann sie denn dafür?“ sprach der vierte Rabe. Der fünfte, „ich wollte ihr nichts zu leid thun“. „Sie könnte uns vielleicht noch erlösen“ sagte der sechste. Und als der siebente eben rief „Gott geb sie wär da!“ so trat sie zur Stubenthür herein, denn sie hatte dem ganzen Gespräch zugelauscht und konnte es nicht über ihr Herz bringen länger zu warten vor großem Mitleiden daß sie ihre leiblichen Brüder in so häßliche Vögel verwandelt erblickte. „Thut mir an was ihr wollt, ich bin eure Schwester mit dem güldnen Kreuz, und sagt an ob ich euch erlösen kann?“ „Ja“ sprachen sie, „du kannst uns noch lösen, aber es ist sehr schwer“. Sie erbot sich willig und mit Freuden zu allem, was es nur wäre, da sagten die Raben „du mußt sieben ganze Jahr kein Sterbenswort sprechen und mußt in der Zeit für jeden von uns ein Hemd und ein Tuch nähen und ein Paar Strümpfe stricken, die dürfen nicht eher noch später fertig werden, als den letzten Tag von den sieben Jahren. Bei uns aber kannst du der Zeit nicht bleiben, denn wir möchten dir einmal Schaden thun, wenn uns die Rabennatur übernimmt, oder durch unsre Gesellschaft dich einmal zum Reden verleiten“. Also suchten sie im Walde nach einem hohlen Baum, setzten sie oben hinein, daß sie da fein still und einsam bliebe, schufen den nöthigen Flachs und Spinngeräth und trugen ihr von Zeit zu Zeit Futter herbei, daß sie nicht Hungers verkäme.

So verstrich ein Jahr, ein zweites und noch eins, und das gute Schwesterchen saß still in dem hohlen Baum, rührte und regte sich nicht als so viel es zum Spinnen brauchte. Da geschah daß der Fürst des Reiches, wozu der Wald gehörte, eines Tags eine Jagd anstellte und in der Irre ein Rudel Hunde durch Strauch und Busch, wohin sonst kein Jäger gelangt war, und bis zu dem hohlen Baum drang. Da standen die Hunde still, weil sie etwas Lebendiges spürten, schnoberten und stellten sich bellend um den Baum. Die Jäger aber folgten dem Geschrei und näherten sich, konnten jedoch anfangs das Thier nicht finden, dessen Spur die Hunde hatten, weil die Jungfrau ganz still saß und sich nicht regte und vor der Länge der

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_082.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)