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erzählte ihnen was die Alte gesagt hatte und sprach „wer weiß, was für eine List dahinter steckt, Vorsicht ist gut, haltet Wache und sorgt daß die Jungfrau nicht wieder aus meiner Kammer kommt.“ Als die Nacht einbrach, kam die Alte mit ihrer Tochter und führte sie in die Arme des Königssohns, und dann schlang sich der Lange um sie beide in einen Kreiß, und der Dicke stellte sich vor die Thüre, also daß keine lebendige Seele herein konnte. Da saßen sie beide, und die Jungfrau sprach kein Wort, aber der Mond schien durchs Fenster auf ihr Angesicht, daß er ihre wunderbare Schönheit sehen konnte. Er that nichts als sie anschauen, war voll Freude und Liebe, und es kam keine Müdigkeit in seine Augen. Das dauerte bis elf Uhr, da warf die Alte einen Zauber über alle, daß sie einschliefen, und in dem Augenblick war auch die Jungfrau entrückt.

Nun schliefen sie hart bis ein Viertel vor zwölf, da war der Zauber kraftlos, und sie erwachten alle wieder. „O Jammer und Unglück,“ rief der Königssohn, „nun bin ich verloren!“ Die treuen Diener fiengen auch an zu klagen, aber der Horcher sprach „seid still, ich will horchen,“ da horchte er einen Augenblick und dann sprach er „sie sitzt in einem Felsen dreihundert Stunden von hier, und bejammert ihr Schicksal. Du allein kannst helfen, Langer, wenn du dich aufrichtest, so bist du mit ein paar Schritten dort.“ „Ja,“ antwortete der Lange, „aber der mit den scharfen Augen muß mitgehen, damit wir den Felsen wegschaffen.“ Da huckte der Lange den mit verbundenen Augen auf, und im Augenblick, wie man eine Hand umwendet, waren sie vor dem verwünschten Felsen.

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 2 (1850). Göttingen 1850, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1850_II_271.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)