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und Schwiegermutter, und die jungen Leute hatten den Haushalt allein. Eines Morgens, wie der Mann auf dem Tisch vor dem Fenster saß, brachte ihm die Frau den Kaffee, und als er ihn in die Unterschale ausgegossen hatte und eben trinken wollte, da schien die Sonne darauf und der Widerschein blinkte oben an der Wand so hin und her und machte Kringel daran. Da sah der Schneider hinauf und sprach „ja, die wills gern an den Tag bringen und kanns nicht!“ Die Frau sprach „ei, lieber Mann, was ist denn das? was meinst du damit?“ Er antwortete „das darf ich dir nicht sagen.“ Sie aber sprach „wenn du mich lieb hast, mußt du mirs sagen“ und gab ihm die allerbesten Worte, es sollts kein Mensch wieder erfahren, und ließ ihm keine Ruhe. Da erzählte er, vor langen Jahren, wie er auf der Wanderschaft ganz abgerissen und ohne Geld gewesen, habe er einen Juden erschlagen, und der Jude habe in der letzten Todesangst die Worte gesprochen „die klare Sonne wirds an den Tag bringen!“ Nun hätts die Sonne eben gern an den Tag bringen wollen, und hätt an der Wand geblinkt und Kringel gemacht, sie hätts aber nicht gekonnt. Danach bat er sie noch besonders, sie dürfte es niemand sagen, sonst käm er um sein Leben, das versprach sie auch. Als er sich aber zur Arbeit gesetzt hatte, gieng sie zu ihrer Gevatterin und vertraute ihr die Geschichte, sie dürfte sie aber keinem Menschen wieder sagen; ehe aber drei Tage vergiengen, wußte es die ganze Stadt, und der Schneider kam vor das Gericht und ward gerichtet. Da brachte es doch die klare Sonne an den Tag.

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 2 (1850). Göttingen 1850, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1850_II_175.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)