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andern Morgen hungrig wieder auf. So gieng es auch den vierten Tag, und wenn der Schuster sich auf einen umgestürzten Baum setzte, und seine Mahlzeit verzehrte, so blieb dem Schneider nichts als das Zusehen. Bat er um ein Stückchen Brot, so lachte der andere höhnisch und sagte „du bist immer so lustig gewesen, da kannst du auch einmal versuchen wies thut wenn man unlustig ist: die Vögel die Morgens zu früh singen, die stößt Abends der Habicht,“ kurz, er war ohne Barmherzigkeit. Aber am fünften Morgen konnte der arme Schneider nicht mehr aufstehen und vor Mattigkeit kaum ein Wort herausbringen; die Backen waren ihm weiß und die Augen roth. Da sagte der Schuster zu ihm „ich will dir heute ein Stück Brot geben, aber dafür will ich dir dein rechtes Auge ausstechen.“ Der unglückliche Schneider, der doch gerne sein Leben erhalten wollte, konnte sich nicht anders helfen: er weinte noch einmal mit beiden Augen und hielt sie dann hin, und der Schuster, der ein Herz von Stein hatte, stach ihm mit einem scharfen Messer das rechte Auge aus. Dem Schneider kam in den Sinn was ihm sonst seine Mutter gesagt hatte, wenn er in der Speisekammer genascht hatte „essen so viel man mag, und leiden was man muß.“ Als er sein theuer bezahltes Brot verzehrt hatte, machte er sich wieder auf die Beine, vergaß sein Unglück und tröstete sich damit daß er mit einem Auge noch immer genug sehen könnte. Aber am sechsten Tag meldete sich der Hunger aufs neue und zehrte ihm fast das Herz auf. Er fiel Abends bei einem Baum nieder, und am siebenten Morgen konnte er sich vor Mattigkeit nicht erheben, und der Tod saß ihm im Nacken. Da sagte der Schuster „ich will

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 2 (1850). Göttingen 1850, Seite 122. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1850_II_122.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)