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einen Sohn zur Welt. Darauf in der Nacht, wo sie allein in ihrem Bette lag, erschien ihr die Jungfrau Maria, und sprach „willst du nun die Wahrheit sagen, und gestehen daß du die verbotene Thür aufgeschlossen hast, so will ich deinen Mund öffnen, und dir die Sprache wieder geben: verharrst du aber in der Sünde, und leugnest hartnäckig, so nehm ich dein neugebornes Kind mit mir“. Da war der Königin verliehen zu antworten, aber sie sprach „nein, ich habe die verbotene Thür nicht geöffnet“, und die Jungfrau Maria nahm das neugeborne Kind ihr aus dem Arme, und verschwand damit. Am andern Morgen, als das Kind nicht zu finden war, gieng ein Gemurmel unter den Leuten, die Königin wäre eine Menschenfresserin, und hätte ihr eigenes Kind umgebracht. Sie hörte alles, und konnte nichts dagegen sagen, der König aber hatte sie zu lieb als daß ers glauben wollte.

Nach einem Jahr gebar die Königin wieder einen Sohn, da trat in der Nacht auch wieder die Jungfrau Maria vor sie, und sprach „willst du nun gestehen daß du die verbotene Thüre geöffnet hast, so will ich dir dein Kind wiedergeben, und deinen Mund lösen: verharrst du aber in der Sünde, und leugnest, so nehme ich auch dieses neugeborne mit mir“. Da sprach die Königin wiederum „nein, ich habe die verbotene Thüre nicht geöffnet“, und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen weg und mit sich in den Himmel. Am Morgen, als die Leute hörten daß das Kind abermals verschwunden sey, sagten sie laut die Königin hätte es gegessen, und des Königs Räthe verlangten

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 1 (1837). Göttingen: Dieterich, 1837, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1837_V1_015.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)