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gesättigter Empfindung mitgenießen, ohne zwischen der registrirten Schilderung und der Geschichte hin- und hergeschoben zu werden, d. h. daß die Erscheinung und das Geschehende in einander aufgehen. Ein Beispiel bei Gotthelf. Nirgends verliert er sich in die moderne Landschafts- und Naturschilderung mit den Düsseldorfer oder Adalbert Stifter’schen Malermitteln (welche uns andern allen mehr oder weniger ankleben und welche wir über kurz oder lang wieder werden ablegen müssen); und doch wandeln wir bei ihm überall im lebendigen Sonnenschein der grünen prächtigen Berghalden und im Schatten der schönen Thäler und sehen die dräuende Gewitternacht der tapfern Gebirgswelt über die hellen Höfe hereinziehen. Und wo er das Naturereigniß an sich selbst zum Gegenstande epischer Dichtung macht, wie in der „Wassernoth im Emmental“, da wird es zur lebendigen Person und in seinem gewaltigen Einherbrausen Eins mit den Leidenschaften der Menschen, über welche es hereinbricht; sowie überhaupt dieß kleine Büchlein ein wahres Muster- und Lehrbüchlein zu nennen ist für unsere heutigen Pfuscher und Producenten aller Art. Denn es enthält in richtig und glücklich abgewogenen Gegensätzen alle Momente eines reichen Stoffs selbst mit trefflich eingestreutem sachgemäßen Humor; und nichts fehlt als die gereinigte Sprache und das rhythmische Gewand im engern Sinne (im weitesten Sinne ist Rhythmus da in Hülle und Fülle), um das kleine Werkchen zum klassischen mustergültigen Gedicht zu machen. Man lese es und man wird uns Recht geben, erstaunend, wie arm und unbeholfen die Dutzende von gereimten Büchelchen sind, die uns alle Tage auf den Tisch regnen, mit und ohne Firma.

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Gottfried Keller: [Über] Jeremias Gotthelf. Wilhelm Hertz, Berlin 1893, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Keller_Gotthelf_160.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)