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Doch verlassen wir endlich dieß unerquickliche Gebiet und kommen wir auf Gotthelf’s Vorzüge zurück. Diese sind die Hauptsache, sonst wäre ich gar nicht im Fall, diese Recension zu schreiben. Daß Gotthelf ein vortrefflicher Maler des Volkslebens, der Bauerndiplomatik, der Dorfintriguen, des Familienglücks und Familienleids ist, daß er Feld und Stall, Stube und Küche und Speicher genau kennt, ist schon gesagt und versteht sich eigentlich bei vorliegendem Stoffe von selbst. Aber, wenn wir doch noch von einer abgeschlossenen Volkspoesie sprechen müssen: er hat Vorzüge darüber hinaus, welche in jeder Gattung, auch der höchsten, wenn es eine gibt, nur dem bevorzugten Talente eigen sind. Er hat gar keine charakterlosen schwankenden Figuren. Jeder ist bei ihm an seinem Platz und gut durchgeführt, und er hat sich einer großen Mannichfaltigkeit zu rühmen, und ganz feine Nuancen kommen vor. Er weiß einen Unterschied zu machen zwischen zwei schlauen verschmitzten Bauern, und, durch die zartesten Linien getrennt, neigt sich der eine auf liebenswürdige Weise zum Guten, der andere zum Bösen. Hauptsächlich auch auf die Frauen versteht er sich sehr gut. Was für vortreffliche alte, dicke Bäuerinnen schildert er, die Zuflucht der ganzen Gegend, wohlwollend und klug! Wie lustig wissen die behaglichen und doch fein organisirten Frauen ihre störrischen Männer zu ihrem eigenen Besten an der Nase herumzuführen, daß Einem das Herz lacht und man sich selbst unter ihre Fürsorge versetzt wünscht! Und wie schön sind die jungen Mädchen und Weiber gezeichnet! Der beste Beweis ist, daß man sich immer selbst mit verliebt, oder wenigstens, um in Gotthelf’s Sprache zu reden, sich „sauwohl“ bei ihnen befindet. Die Liebesverhältnisse sind überaus fein und meisterhaft

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Gottfried Keller: [Über] Jeremias Gotthelf. Wilhelm Hertz, Berlin 1893, Seite 117. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Keller_Gotthelf_117.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)