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er als Pfarrer über seinem Publikum steht, so steckt er wieder als Schriftsteller wie ein Naturdichter mitten unter demselben und scheint ohne Nachdenken und Mäßigung zu arbeiten. Wie Auerbach sich im heimatlich schwäbischen Schwarzwalde bewegt, so nimmt Gotthelf Stoff und Scene seiner Erzählungen aus dem Kanton Bern, und sie bekommen dadurch ebenfalls die lokale Färbung und Wahrheit, welche in guten Volksschriften von je gefunden worden und, kann man hinzusetzen, überhaupt eine Lebensbedingung der ursprünglichen klassischen Dichtungen fast aller Zeiten und Völker sind. Denn es ist ein bedeutsamer Wink, daß alles, was einem gesunden Volksbuch zu gute kommt, bei Licht besehen jedem poetischen Produkt, da wo ein reiner Geschmack herrscht, zum Vorzug gereicht.

Wenn aber bei Auerbach Herz und Gemüth die erste Rolle spielen, und daher seine Geschichten durch den Konflikt, in welche jene auch im Dorfe gerathen, zu artigen Romanen, lieblichen Dichtungen werden, so sucht Gotthelf seinen Beruf darin, daß er einen der Charaktere, welche im Volksleben sich am stärksten auszubilden pflegen, herausgreift und dann in einem etwas eintönigen Verlaufe, ohne künstliche Verwickelungen, zeigt, wie dieser Charakter zum Guten oder Bösen gedeihen könne. Dabei sind indessen alle andern Personen, welche sich an denselben anschließen, alle Sitten und Gebräuche so wahr und schlagend gezeichnet, daß auch der alltäglichste Lebenslauf und trockenste Haushalt dadurch interessant und mannigfaltig wird. Gotthelf hat zwar auch „Schweizerische Sagen und Bilder“ geschrieben, worin immer mit der Dorfgeschichte eine alte Zwingherren- und Gespenstergeschichte verflochten ist. Diese letzern sind aber in einem so übertriebenen

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Gottfried Keller: [Über] Jeremias Gotthelf. Wilhelm Hertz, Berlin 1893, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Keller_Gotthelf_100.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)