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711 Die Disciplin der reinen Vernunft im dogm. etc. 711

einer continuirlichen Prüfung unterworfen werden, imgleichen auch nicht in der Mathematik, wo ihre Begriffe an der reinen Anschauung so fort in concreto dargestellet werden müssen, und iedes Ungegründete und Willkührliche dadurch alsbald offenbar wird. Wo aber weder empirische noch reine Anschauung die Vernunft in einem sichtbaren Geleise halten, nemlich in ihrem transscendentalen Gebrauche nach blossen Begriffen, da bedarf sie so gar sehr einer Disciplin, die ihren Hang zur Erweiterung, über die enge Gränzen möglicher Erfahrung, bändige, und sie von Ausschweifung und Irrthum abhalte, daß auch die ganze Philosophie der reinen Vernunft blos mit diesem negativen Nutzen zu thun hat. Einzelnen Verirrungen kan durch Censur und den Ursachen derselben durch Critik abgeholfen werden. Wo aber, wie in der reinen Vernunft, ein ganzes System von Täuschungen und Blendwerken angetroffen wird, die unter sich wol verbunden und unter gemeinschaftlichen Principien vereinigt sind, da scheint eine ganz eigene und zwar negative Gesetzgebung erforderlich zu seyn, welche unter dem Nahmen einer Disciplin aus der Natur der Vernunft und der Gegenstände ihres reinen Gebrauchs gleichsam ein System der Vorsicht und Selbstprüfung errichte, vor welchem kein falscher vernünftelnder Schein bestehen kan, sondern sich sofort, unerachtet aller Gründe seiner Beschönigung, verrathen muß.

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Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft (1781). Johann Friedrich Hartknoch, Riga 1781, Seite 711. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kant_Critik_der_reinen_Vernunft_711.png&oldid=- (Version vom 18.8.2016)