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0 Einleitung. 5

sieht der Trieb zur Erweiterung keine Grenzen. Die leichte Taube, indem sie im freyen Fluge die Luft theilt, deren Widerstand sie fühlt, könte die Vorstellung fassen, daß es ihr im Luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde. Eben so verließ Plato die Sinnenwelt, weil sie dem Verstande so vielfältige Hindernisse legt, und wagte sich ienseit derselben auf den Flügeln der Ideen, in den leeren Raum des reinen Verstandes. Er bemerkte nicht, daß er durch seine Bemühungen keinen Weg gewönne, denn er hatte keinen Wiederhalt, gleichsam zur Unterlage, worauf er sich steifen, und woran er seine Kräfte anwenden konte, um den Verstand von der Stelle zu bringen. Es ist aber ein gewöhnliches Schicksal der menschlichen Vernunft in der Speculation ihr Gebäude so früh, wie möglich, fertig zu machen, und hintennach allererst zu untersuchen, ob auch der Grund dazu gut geleget sey. Alsdenn aber werden allerley Beschönigungen herbey gesucht, um uns wegen dessen Tüchtigkeit zu trösten, oder eine solche späte und gefährliche Prüfung abzuweisen. Was uns aber während dem Bauen von aller Besorgniß und Verdacht frey hält, und mit scheinbarer Gründlichkeit schmeichelt, ist dieses. Ein großer Theil, und vielleicht der größte, von dem Geschäfte unserer Vernunft besteht in Zergliederungen der Begriffe, die wir schon von Gegenständen haben. Dieses liefert uns eine Menge von Erkentnissen, die, ob sie gleich nichts weiter als Aufklärungen oder Erläuterungen desienigen

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Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft (1781). Johann Friedrich Hartknoch, Riga 1781, Seite 005. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kant_Critik_der_reinen_Vernunft_005.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)