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Voltaire: Kandide. Erster Theil

Martin. Leicht möglich! so wie der hienieden allenthalben herumspuhkt und sein Wesen hat, kann er’s auch in meinem Leibe.

Ich mus Ihnen gestehn, wenn ich so einen Blik auf die Erdkugel, oder vielmehr auf dies winzige Erdkügelchen werfe, daß mir der Gedanke nicht aus dem Kopf will: Gott habe einem bösen Geiste die Macht eingeräumt, eignes Beliebens damit zu schalten und zu gebaren; Eldorado nem’ ich hiervon aus.

Ich habe keine Stadt gesehn, die nicht nach dem Untergang ihrer Nachbarin dürstete, keine Familie, die nicht nach der Ausrottung einer andern lechzte; ich seh’ allenthalben, wie die Schwachen die Mächtigen verabscheuen, vor welchen sie kriechen müssen, und wie diese jenen als einer Heerde begegnen, der Woll’ und Fleisch feil ist; sehe wie eine Million eingeregimenteter Schnapphähne Europa von einem Winkel zum andern durchströmt, mordet und strassenraubt, und das alles mit der schärfsten Mannszucht, blos um ein Stükchen Brod zu verdienen, das er auf keine ehrenvollere Art zu verdienen weis. Und in Städten, die im völligsten Genus des Friedens zu sein scheinen, worin Künst’ und Wissenschaften blühen, martert, reibt die Einwohner Eifersucht, Gram und Kummer weit mehr auf, als alle Drangsale und Schreknisse der Hungersnot

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Voltaire: Kandide. Erster Theil. Berlin: Christian Friedrich Himburg. 1782, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kandide_(Voltaire)_120.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)