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Voltaire: Kandide. Erster Theil

Als meine Gespielinnen gehn konnten, mussten sie nach Moskau wandern. Ich fiel einem Bojaren[1] zu Theil, der mich zu seiner Gärtnerin machte, und mir täglich zwanzig Hiebe mit der Knute gab. Allein nach zwei Jahren wurde dieser Herr mit dreissig andern Bojaren gerädert, weil sie am Hofe ein gar hübsches Rührei[2] gemacht hatten.

Diese Begebenheit benuzt’ ich, wipste davon, durchstrich ganz Rusland, war lange Zeit zu Riga Aufwärterin in einem Wirtshause, bekleidete den Posten auch zu Rostok, Wismar, Leipzig, Kassel, Utrecht, Leiden, Haag, Rotterdam, ward im Elend und in der Schande alt und grau; schleppte allenthalben meinen halben Hintern mit herum, und die Erinnrung, daß ich die Tochter eines Pabsts sei. Hundertmal war ich Willens, mich zu tödten, aber immer siegte die Liebe zum Leben.

Diese lächerliche Schwäche ist eine unsrer unseeligsten Triebe. Kan man sich wohl etwas thörichters denken, als ein Geschöpf, das eine Last


  1. Bojar, der Titel vornemer Herren in Rusland und in der Wallachei
  2. Rührei, ein dem in Orginal befindlichen Tracasserie völlig entsprechender Niedersächsischer Ausdruk.
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Voltaire: Kandide. Erster Theil. Berlin: Christian Friedrich Himburg. 1782, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kandide_(Voltaire)_064.jpg&oldid=- (Version vom 7.6.2021)