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Voltaire: Kandide. Erster Theil

Nunmehr befand ich mich in den Händen eines Janitscharenagas[1], der bald darauf Befehl erhielt, dem von den Russen belagerten Azof zum Entsaz zu kommen. Dieser Aga war ein überaus galanter Mann; er nam alle seine Kebsdamen mit, logierte uns in eine kleine Schanze, dicht am See Tana, die von zwei schwarzen Verschnittnen und zwanzig Soldaten bedekt wurde. Die Russen stürzten anfänglich hin wie die Fliegen; bald aber kehrte sich das Blat. Azof ging über, wurde mit Feuer und Schwert verwüstet; bei den Überwindern galt kein Ansehn des Alters noch Geschlechts.

Unsre kleine Schanze hielt sich noch; die Feinde beschlossen sie auszuhungern. Die zwanzig Janitscharen hatten geschworen, sich nie zu ergeben. Der äusserste nagendste Hunger nötigte sie, unsre beiden Verschnittnen aufzufressen, damit sie ihren Schwur nicht brechen durften. Nach Verlauf etlicher Tage beschlossen sie, es mit uns ebenso zu machen.

Wir hatten aber einen gar frommen Iman bei uns, einen recht barmherzigen Samariter, der hielt eine gar herrliche Predigt, wodurch sie anders Sinnes wurden. Umbringen müsst Ihr die Weiber nicht, sagte er, aber jeglicher von ihnen


  1. Janitscharenaga, Chef der Janitscharen
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Voltaire: Kandide. Erster Theil. Berlin: Christian Friedrich Himburg. 1782, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kandide_(Voltaire)_062.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)