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Bracht’ zum Vorschein dann ein Söhnlein,
Ließ daß Kindlein voller Schönheit
Auf das Heu zur Seit’ des Pferdes,
Auf des Schönbemähnten Krippe.
     Darauf wusch das kleine Söhnlein,
Wickelt sie es ein in Windeln;
Nimmt den Knaben auf die Kniee,

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Auf den Saum von ihrem Kleide.

     Barg darauf ihre liebes Söhnlein
Und erzog den Vielgeliebten,
Ihren lieben goldnen Apfel,
Ihr geliebtes Silberstäbchen,
Nährte es in ihren Armen,
Wendet’ es auf ihren Händen.
     Ließ den Sohn auf ihre Kniee,
Ließ das Kind auf ihre Hüften,
Fing den Kopf an ihm zu bürsten,

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Seine Haare durchzukämmen;

Von den Knie’n verschwand der Knabe,
Von den Hüften ihr das Kindlein.
     Marjatta, die arme Jungfrau,
Kam dadurch in große Schmerzen;
Macht sich auf das Kind zu suchen,
Sucht ihr liebes kleines Söhnlein,
Suchet ihren goldnen Apfel,
Sucht ihr liebes Silberstäbchen,
Sucht es unter einem Mühlstein,

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Unter einer Schlittenkufe,

Unter einem großen Siebe,
Sucht es unter einem Tragkorb,
Rührt die Bäume, theilt die Kräuter
Und durchsucht die weichen Gräser.
     Suchte lang’ ihr liebes Söhnlein,
Sucht ihr Söhnlein, ihren Kleinen,
Suchet ihn auf Tannenbergen,
Suchet ihn auf Heidefluren,
Schaut auf jedes Heideblümchen,

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Blicket hin auf jedes Sträuchlein,

Gräbet aus Wachholderwurzeln,
Hebet auf der Bäume Zweige.
     Denkt nun weiter fortzugehen,
Machet eilig sich an’s Wandern;
Kommt ein Sternlein ihr entgegen,
Nieder sinkt sie vor dem Sterne:
„O du Stern, den Gott geschaffen!
Weißt du nichts von meinem Sohne,
Wo mein kleiner Sohn geblieben,

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Wo mein goldner Apfel weilet?“

     Antwort wußt’ der Stern zu geben:
„Wüßt’ ich’s auch, würd’ ich’s nicht sagen;
Er ist’s, der mich hat geschaffen,
Daß ich bei solch schlechten Tagen
In der Kälte schimmern sollte,
In den Finsternissen funkeln.“
     Dachte weiter fortzugehen,
Machte eilig sich an’s Wandern,
Kommt der Mond ihr drauf entgegen,

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Nieder sinkt sie vor dem Monde:

„O du Mond, den Gott geschaffen!
Weißt du nichts von meinem Sohne,
Wo mein kleiner Sohn geblieben,
Wo mein goldner Apfel weilet?“
     Gab der Mond ihr diese Antwort:
„Wüßt ich’s auch, würd’ ich’s nicht sagen;
Er ist’s, der mich hat geschaffen,
Daß ich bei solch schlechten Tagen
Einsam bei der Nacht muß wachen,

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In dem Lauf des Tages schlafen.“

     Dachte weiter nun zu gehen,
Machet eilig sich an’s Wandern,
Kommt die Sonne ihr entgegen,
Nieder sinkt sie vor der Sonne:
„Sonne, du, von Gott geschaffne!
Weißt du nichts von meinem Sohne,
Wo mein kleiner Sohn geblieben,
Wo mein goldner Apfel weilet?“
     Klüglich antwortet die Sonne:

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„Kenne wohl dein liebes Söhnlein;

Er ists, der mich hat geschaffen,
Daß ich in den schönen Tagen
In dem Golde rauschen möge,
In dem Silber schön erstrahle.“
     „Kenne schon dein liebes Söhnlein,
Kenne, Arme, deinen Kleinen,

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_293.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)