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Daß ein neuer Mond entstehe,
Eine neue Sonne wachse.
     Wiegte auf der langen Wolke,
Auf dem Saum der Luft die Jungfrau
Fleißig darauf wohl das Feuer,
Schaukelt hin und her die Flamme
In der goldgeschmückten Wiege,
An den silberreichen Riemen.
     Bogen sich die Silberstangen,

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Lärmend rauscht’ die goldne Wiege,

Wolken und der Himmel krachten,
Schräg neigt sich des Himmels Deckel
Bei dem Wiegen von dem Feuer,
Bei dem Schaukeln von der Flamme.
     Wiegt das Feuer so die Jungfrau,
Schaukelt hin und her die Flamme,
Streicht das Feuer mit den Fingern,
Wartet es mit ihren Händen,
Es entfällt darauf der Dummen,

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Dieser Jungfrau ohne Vorsicht,

Aus den Händen, die es wenden,
Aus den Fingern, die es streicheln.
     Spaltend berstet da der Himmel,
Öffnet sich der ganze Luftraum;
Nieder fällt der Feuerfunken,
Rauscht herab der rothe Tropfen,
Gleitet durch des Himmels Decke,
Zischet durch der Wolken Hülle,
Eilet durch der Himmel Neunzahl,

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Durch der Sternenzelte Sechszahl.

     Sprach der alte Wäinämöinen:
„Bruder, du Schmied Ilmarinen!
Laß uns gehen zuzuschauen,
Laß uns gehen zu erfahren,
Was für Feuer nun gekommen,
Welche Flammen nun geleuchtet
Aus dem obern Raum des Himmels
Auf den untern Raum der Erde;
Sollt’ es sein des Mondes Scheibe

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Oder auch der Sonne Kugel?“

     Gingen darauf beide Helden,
Schritten vorwärts, überlegten,
Wie sie wohl gelangen könnten,
Wie sie wohl zurecht sich fänden
Zu dem Ort, woselbst das Feuer,
Wo die Flamme hingestürzet.
     Rauscht ein Fluß vor ihnen beiden,
Wie ein stattlich Meer gestaltet;
Fing der alte Wäinämöinen

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Nun ein Boot an sich zu zimmern,

Bei dem Walde sich zu hämmern;
Mit ihm macht Schmied Ilmarinen
Aus der Fichte sich ein Steuer,
Aus der Tanne Ruderstangen.
Fertig war das Boot gezimmert,
Mit den Haken, mit den Rudern,
Führte nun das Boot ins Wasser,
Ruderte und eilte vorwärts
Ringsum auf dem Newastrome,

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An des Newaflusses Spitzen.

     Ilmatar, der Lüfte Tochter,
Sie, der Schöpfungstochter erste,
Kommet ihnen dort entgegen,
Redet also, spricht die Worte:
„Wer wohl seid ihr von den Männern,
Wie wohl nennen euch die Leute?“
     Sprach der alte Wäinämöinen:
„Beide sind wir Meeresmänner,
Ich der alte Wäinämöinen,

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Ilmarinen ist der andre;

Aber sag’ uns deine Herkunft,
Wie man dich zu nennen pfleget?“
     Sprach das Weib nun solche Worte:
„Bin die älteste der Frauen,
Bin der Lüftetöchter erste,
Bin die früheste der Mütter,
Fünfmal war ich schon vermählet,
Sechsmal schon als Braut verlobet;
Wohin gehet ihr, o Männer,

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Ziehet ihr, o braven Helden?“

     Sprach der alte Wäinämöinen,
Redet selber diese Worte:
„Ausgegangen ist das Feuer,
Uns die Flamme fortgekommen;

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 275. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_275.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)