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     Als der alte Wäinämöinen

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Da auf seiner Harfe spielte,

Zart von Hand und weichen Fingers,
Seinen Daumen auswärts krümmte,
Da ertönt das Holz der Birke,
Klinget laut die reichbelaubte,
Rief voll Lust das Gold des Kuckucks,
Jubelte das Haar der Jungfrau.
     Wäinämöinen’s Finger spielen,
Seiner Harfe Saiten tönen,
Berge springen, Blöcke krachen,

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Ganze Felsen selber dröhnen,

Steine bersten auf den Fluthen,
Kies selbst schwimmet in dem Wasser,
Fichten waren voller Freude,
Stämme hüpften auf der Heide.
     Alle Frauen Kalewala’s
Eilen fort von ihrem Nähen
Dorthin gleichwie mit dem Strome,
Stürzen hin gleich einem Flusse,
Junge Weiber munter lachend,

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Froher Laune jede Wirthin,

Um das Spiel mit anzuhören,
Um die Freude anzustaunen.
     Wieviel Männer nahe waren,
Standen, in der Hand die Mütze,
Wieviel Weiber nahe waren,
Hielten ihre Hand zur Wange,
Thränend sind der Mädchen Augen,
Auf der Erde knie’n die Knaben,
Lauschen auf der Harfe Töne,

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Staunen ob des freud’gen Klanges,

Reden wie mit einem Munde,
Sprechen wie mit einer Zunge:
„Niemals ist zuvor gehöret
Solch ein Spielen voller Anmuth,
Nie, so lang’ die Zeiten dauern,
Nie, so lang’ das Mondlicht strahlet.“
     Tönte weit das schöne Spielen,
Tönte über sechs der Dörfer,
Gab daselbst kein einz’ges Wesen,

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Das zu hören nicht gekommen

Dieses Spielen voller Anmuth,
Dieses Tönen auf der Harfe.
     Alle Thiere in dem Walde
Hocken nieder auf die Krallen,
Um die Harfe anzuhören,
Um die Freude anzustanen;
Alle Vögel in den Lüften
Lassen sich auf Zweige nieder,
Wasserfische jeder Gattung

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Nähern sich dem Meeresstrande,

Würmer kommen aus der Tiefe
Auf der Erde Staub gekrochen,
Wenden sich und hören fleißig
Auf das Spielen voller Anmuth,
Auf die Freude von der Harfe,
Auf das Drehen Wäinämöinen’s.
     Spielt’ der alte Wäinämöinen
Wohl auf wunderbare Weise,
Ließ gar schöne Töne klingen;

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Spielte einen Tag, den zweiten,

Spielte ohne anzuhalten
Von dem Frühstück an dem Morgen,
Von demselben Gurt umschlossen,
Mit demselben Hemd bekleidet.
     Spielte er in seinem Hause,
In der Wohnung, die von Tannen,
Dann ertönte die Bedachung,
Dann erdröhnte oft der Boden,
Sang die Decke, heult’ die Thüre,

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Alle Fenster jubeln lustig,

Selbst des Ofens Steine schwankten
Und die Pfeiler selbst ertönten.
     Wandert er im Fichtenwalde,
Gehet er durch Tannenhaine,
Bücken tief sich alle Fichten,
Neigen sich zur Erd’ die Tannen,
Nieder fallen ihre Zapfen,
Zu den Wurzeln ihre Zweige.
     Wandelte er durch die Haine,

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Oder schreitet er durch Büsche,

Spielten munter gleich die Haine,
Freuten immer sich die Büsche,
Wurden liebevoll die Blumen,
Beugten sich die jungen Reiser.

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_260.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)