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Schreitet rasch in seine Nähe,
Gehet näher hin zum Baume,
Fragte so zur Birke sprechend:
„Weshalb weinst du, schöne Birke,
Klagst du also, grünbelaubte,
Jammerst du mit weißem Gürtel?
Wirst ja nicht zum Krieg geführet,
Nicht zum Kampfe du gezwungen.“
     Klüglich antwortet die Birke,

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Redet selbst die grünbelaubte:

„Also mögen viele sprechen,
Mögen manche von mir reden,
Daß ich nur in Freude lebe,
Daß ich voller Jubel rausche;
Arme, die ich bei den Sorgen,
Bei der Wehmuth mich nur freue,
Die ich in den Unheilsstunden,
Bei dem Kummer mich beklage.“
     „Weine jetzt ob meiner Kleinheit,

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Und beklage meine Armuth,

Da ich Arme ohne Antheil
Elend ohne alle Stütze
Hier auf dieser schlechten Stelle,
Auf dem Weideplatze stehe.“
     „Voller Glück und reich an Wonne
Hoffen andre immerwährend,
Daß der schöne Sommer komme,
Daß die warme Zeit erscheine,
Anders muß ich dummes Bäumchen,

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Muß ich arme Birke geben

Meine Rinde zum Zerschneiden,
Meine Zweige fortzuführen.“
     „Oftmals sind zu mir, der Zarten,
Oft zu mir, der armen Birke,
Kinder in dem raschen Frühjahr
Her zu meinem Stamm gekommen,
Schlitzen mit dem scharfen Messer
Aus dem Bauch mir meine Säfte,
Böse Hirten ziehen Sommers

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Ab mir meinen weißen Gürtel,

Machen Schalen, machen Scheiden,
Machen daraus Beerenkörbchen.“
     „Oftmals sind bei mir, der Zarten,
Oft bei mir, der zarten Birke,
Mädchen, die am Stamme sitzen,
Die an meiner Seite weilen,
Schneiden Laub mir von der Krone,
Binden Zweige fest zu Besen.“
     „Oftmals hat man mich, die Zarte,

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Oftmals mich, die zarte Birke,

Schon beim Schwenden umgehauen,
Mich zu Brennholz kleingespalten;
Dreimal sind in diesem Sommer,
In dem Lauf der warmen Jahrszeit
Männer an dem Stamm gewesen,
Haben ihre Axt gewetzet
Gegen meine arme Krone,
Daß ich um mein Leben käme.“
     „Dieses war die Freud’ im Sommer,

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Dieß die Lust von dieser Jahrszeit;

Doch nicht besser war der Winter,
Nicht die Schneezeit angenehmer.“
     „Stets hat schon in frühen Zeiten
Kummer mein Gesicht verändert,
Mir mein Haupt schlimm zugerichtet,
Meine Wangen sind erblichen,
Wenn ich an die schwarzen Tage,
An die schlechten Zeiten dachte.“
     „Schmerzen bringen dann die Winde

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Und der Reif gar bittre Sorgen,

Winde führen fort den Laubpelz,
Fort der Reif die hübsche Kleidung,
Daß ich arme, schwache Birke,
Ich, das unglücksvolle Bäumchen,
Unbekleidet hier verbleibe,
Aller Kleidung ganz beraubet,
In der strengen Kälte zittre,
In dem Froste heftig klage.“
     Sprach der alte Wäinämöinen:

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„Weine nicht, o grünes Bäumchen,

Klage nicht, du reichbelaubte,
Jammre nicht mit weißem Gürtel!
Sollst ein wonnig Loos erhalten,
Voller Lust ein neues Leben;

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_258.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)