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Ließ dort Baum und Kraut erfrieren,

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Machte alle Fluren eben,

Biß die Blätter von den Bäumen,
Nahm den Kräutern ihre Blüthen,
Biß die Rinde von den Fichten,
Löst’ die Borke von den Tannen.“
     „Bist du schon zu groß geworden
Und bereits zu hoch gewachsen,
Willst du selber mich erstarren,
Meine Ohren schwellen lassen,
Willst die Füße du mir nehmen,

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Meine Fingerspitzen rauben?“

     „Laß du mich ja nicht erstarren,
Mich gar jämmerlich erfrieren:
Werde Feuer in die Strümpfe,
In die Schuhe Brände stecken,
Kleine Kohlen in die Säume,
Pfannen leg’ ich an die Schnüre,
Daß der Frost mich nicht erfasse,
Mich die Kälte nicht berühre.“
     „Dorthin werd’ ich dich nun bannen,

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Zu des Nordens weiter Gränze;

Bist dahin du angekommen,
In die Heimath du gelanget,
Laß die Kessel dort erkalten,
Auf des Ofens Herd die Kohlen,
In dem Teig der Weiber Hände,
Auf des Weibes Schooß den Knaben,
Alle Milch du bei den Schaafen,
In der Stute Leib das Füllen!“
     „Solltest du auch dieß nicht achten,

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Werde ich von hier dich bannen

In des Hiisi Kohlenhaufen,
Zu dem Ofenherd des Lempo;
Dringe du dort in das Feuer,
Setze du dich auf den Amboß,
Daß der Schmied dich mit dem Hammer,
Mit dem Klöpfel tüchtig walke,
Mit dem Hammer kräftig schlage,
Mit dem Klöpfel dich zermalme.“
     „Solltest du auch dieß nicht achten,

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Und nicht im geringsten weichen,

Kenn’ ich eine andre Stelle,
Weiß von einem Aufenthalte:
Führe deinen Mund zum Sommer,
Zu dem warmen Haus die Zunge,
Daß du lebenslang gefangen
Nie von dorten dich befreiest,
Wenn ich selber dich nicht löse,
Selbst nicht zu befreien komme.“
     Endlich merkt der Sohn des Nordwinds,

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Er, der Frost, daß Unheil nahet,

Bittet selber jetzt um Gnade,
Redet Worte solcher Weise:
„Wollen wir uns so vergleichen,
Daß der eine nicht dem andern
Schade in dem Lauf der Zeiten,
Nicht solang’ das Mondlicht glänzet.“
     „Hörst du, daß ich Kälte brachte
Oder anderswie geraset,
Stoße dann mich in das Feuer,

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Dränge du mich in die Flammen,

Zwischen heiße Schmiedekohlen,
In die Esse Ilmarinen’s,
Führe meinen Mund zum Sommer,
Meine Zung’ zum warmen Hause,
Daß ich lebenslang gefangen,
Nie von dort befreiet werde!“
     Ließ der muntre Lemminkäinen
In dem Eise seinen Nachen,
Dort in Stich das Kriegesfahrzeug,

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Wandert selber fort des Weges;

Tiera folgte als Gefährte
Seines muntern Freundes Spuren.
     Ging nun auf dem ebnen Eise,
Schritt behende auf der Glätte;
Schreitet einen Tag, den zweiten,
Endlich an dem dritten Tage
Kommt die Hungerspitz’ zum Vorschein,
Wird das schlimme Dörflein sichtbar.
     Schreitet zu der Burg der Spitze,

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Redet Worte solcher Weise:

„Giebt’s wohl Fleisch in diesem Schlosse,
Fische hier auf diesem Hofe

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_190.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)