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     Diese Worte sprach die Mutter,
Redet’ zu dem Kind die Alte:
„Hab’ es dir bereits gesaget,
Habe dich gar sehr gewarnet,
Dir in einem fort verboten,

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Nach dem Nordland hinzugehen;

Konntest ja beim Rechte bleiben,
In der Mutter Stube wohnen,
In dem Schutze deiner Alten,
In dem Hofe deiner Lieben,
Wäre dann kein Krieg entstanden,
Hätte sich kein Streit erhoben.“
     „Wohin willst du nun, mein Söhnchen,
Wohin willst du, Ärmster, eilen,
Um der Unthat zu entfliehen,

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Vor dem Frevel dich zu bergen,

Daß dein Kopf dir nicht gefährdet,
Nicht dein Hals gespalten werde,
Daß dein Haar dir nicht beschädigt,
Es dir nicht zerzauset werde?“
     Sprach der muntre Lemminkäinen:
„Kenne keine solche Stelle,
Wo ich Zuflucht finden könnte,
Mich verbergen nach der Unthat;
Mutter, die du mich getragen,

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Wohin willst du, daß ich fliehe?“

     Sprach die Mutter Lemminkäinen’s,
Redet’ selber diese Worte:
„Weiß nicht, wohin ich dich schicken,
Wohin schicken soll und senden;
Werd’ zur Tanne auf dem Berge,
Zum Wachholder auf dem Felde,
Dort auch könnt’ dich Unglück treffen,
Könnte Unheil dich befallen:
Oftmals wird des Berges Tanne

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Zu dem Leuchtspan ja zerschnitten,

Oftmals wird der Feldwachholder
Zu Staketen abgeschälet.“
     „Steig’ als Birke in die Niedrung
Oder in den Hain als Erle,
Dort auch könnt’ dich Unglück treffen,
Könnte Unheil dich befallen:
Oftmals wird des Thales Birke
Zu der Stapelung zerschnitten,
Oftmals wird der Hain von Erlen

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Bei dem Schwenden umgehauen.“

     „Werd’ zur Beere auf dem Berge,
Werd’ ein Beerlein auf der Heide,
Eine Erdbeer’ auf dem Felde,
Eine Schwarzbeer’ auf dem Boden,
Dort auch könnt’ dich Unglück treffen,
Könnte Unheil dich befallen:
Würden dich die Mädchen pflücken,
Dich die Zinngeschmückten rauben.“
     „Werd’ zum Hechte in dem Meere,

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Werd’ zum Schnäpel in dem Flusse,

Dort auch könnt’ dich Unglück treffen,
Könnte Unheil dich befallen;
Würd’ ein junger Rußbedeckter
Seine Netz’ in’s Wasser lassen,
Junge dich im Garn entführen,
Alte mit dem Netze fangen.“
     „Werd’ zum Wolfe in dem Walde,
In dem Dickicht du zum Bären,
Dort auch könnt’ dich Unglück treffen,

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Könnte Unheil dich befallen:

Könnt’ ein junger Rußbedeckter
Seine Lanze dorten spitzen
Zu dem Untergang des Wolfes,
Zum Verderben von dem Bären.“
     Sprach der muntre Lemminkäinen,
Redet’ selber diese Worte:
„Kenne selbst die schlechten Stellen,
Selbst die allerunbequemsten,
Wo der Tod mich packen könnte,

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Hartes Schicksal mich ereilen;

Mutter, die du mir das Leben,
Die du Milch dem Kind gegeben!
Wohin willst du, daß ich fliehe,
Wohin soll ich gehn und fliehen?
Vor dem Mund’ steht das Verderben,
Unglück schon auf meinem Barte,
Morgen gilt’s den Kopf des Mannes,
Ist das Unheil ganz vollendet.“

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_177.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)