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Habe, Schlanke, keine Fehler,
Keine Höhlen in dem Innern;
Dreimal hat in diesem Sommer,
In der wärmsten Zeit des Jahres
Meine Mitt’ die Sonn’ durchwandert,
In der Kron’ der Mond geschienen,
In den Zweigen rief der Kuckuck,
In dem Wipfel ruhten Vöglein.“
     Selber Sampsa Pellerwoinen

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Nimmt das Beil dann von der Schulter,

Trifft den Baum mit seinem Beile,
Mit der gleichen Schärf’ die Eiche,
Wußte bald den Baum zu fällen,
Wußt’ die schlanke Eich’ zu senken.
     Haut zuerst den Wipfel nieder,
Spaltet dann den Stamm des Baumes,
Zimmerte das Holz des Bodens,
Bretter, die gar schwer zu zählen,
Zu des Sängers schönem Nachen,

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Zu dem Boote Wäinämöinen’s.

     Wäinamöinen alt und wahrhaft,
Dieser ew’ge Zaubersprecher,
Zimmerte sein Boot mit Zauber,
Baut’ den Nachen mit dem Sange
Aus den Stücken einer Eiche,
Aus den Trümmern eines Baumes.
     Singt ein Lied und fügt den Boden,
Singt ein zweites, setzt die Seiten,
Singet dann zum dritten Male,

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Haut dabei die Ruderpflöcke,

Machet fest der Rippen Enden,
Fügt zusammen ihre Seiten.
     Da die Rippen schon befestigt
Und die Seiten fest gefüget,
Fehlt es jetzo an drei Worten,
Um die Leisten anzusetzen,
Um des Bootes Hintersteven,
Um den Vorderstamm zu enden.
     Wäinämöinen alt und wahrhaft,

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Dieser ew’ge Zaubersprecher,

Redet Worte solcher Weise:
„Weh mir Ärmsten ob des Lebens,
Nicht gelangt das Boot in’s Wasser,
In die Fluth das neue Fahrzeug!“
     Dachte nach und überlegte,
Wo er wohl die Worte fände,
Er die Zauberspruch’ erhielte,
Aus dem Hirne flücht’ger Schwalben,
Aus dem Kopf der Schwäneheerde,

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Aus der Gänseheerde Schultern.

     Ging die Worte nun zu suchen,
Tödtet einen Haufen Schwäne,
Eine ganze Schaar von Gänsen,
Tödtet endlos viele Schwalben,
Kann die Worte noch nicht finden,
Nicht des Wortes Hälfte selber.
     Dachte nach und überlegte:
„Werd’ vielleicht die Worte finden
An des Sommerrennthiers Zunge,

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In dem Mund des weißen Eichhorns.“

     Ging die Worte aufzusuchen,
Ging die Sprüche zu erhaschen,
Rennthier tödtet er ein Feld voll,
Einen Sparren voll Eichhörnchen,
Findet dort der Worte viele,
Können sämmtlich ihm nicht helfen.
     Dachte nach und überlegte:
„Hundert Worte werd’ ich finden
In den Häusern von Tuoni,

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In Manala’s Wohngebäuden.“

     Geht um aus Tuoni’s Reiche
Sich die Worte nun zu holen,
Eilte hin mit raschen Schritten,
Eine Woche lang durch Sträuche,
Ging durch Elsbeerbäum’ die zweite,
Durch Wachholder drauf die dritte,
Schon erschien die Insel Tuoni’s,
Schon der Hügel von Manala.
     Wäinämöinen alt und wahrhaft

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Rief mit lauterhobner Stimme

In dem Flusse von Tuonela,
In den Tiefen von Manala:
„Bring ein Boot, Tuoni’s Tochter,
Eine Fähre, Kind Manala’s,

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_084.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)