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     Sprach der alte Wäinämöinen:
„Habe viel dir zu erzählen:
Eine Jungfrau ist im Nordland,
In dem kalten Dorf ein Mädchen,
Das sich keinem Freier füget,
Das den besten Mann verschmähet;
Wohl das halbe Nordland preiset
Sie als wunderschöne Jungfrau:
Von den Schläfen strahlet Mondlicht,

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Von den Brüsten Licht der Sonne,

Von den Schultern Licht des Bären,
Von dem Rücken sieben Sterne.“
     „Ilmarinen du, o Schmieder,
Du, der ew’ge Schmiedekünstler,
Geh die Jungfrau heimzuführen,
Geh die Flechte zu betrachten,
Wenn den Sampo du ihr schmiedest,
Du den bunten Deckel zierest,
So hast du zum Lohn das Mädchen,

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Für das Werk die schöne Jungfrau.“

     Sprach der Schmieder Ilmarinen:
„O du alter Wäinämöinen,
Hast mich ja bereits versprochen
Nach dem nimmerhellen Nordland,
Um dein eignes Haupt zu lösen,
Um dich selber zu befreien!
Gehe nicht, so lang’ ich lebe,
Nicht, so lang’ das Mondlicht leuchtet,
Nach des Nordlands Wohnungsstätten,

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Nach den Häusern Sariola’s,

Wo die Männer man verzehret
Und in’s Meer die Helden senket.“
     Sprach der alte Wäinämöinen
Selber Worte solcher Weise:
„Giebt noch ein viel größres Wunder,
Eine Ficht’ mit Blüthenkrone,
Blüthenkron’ und goldnen Zweigen
An dem Rand des Osmofeldes,
In dem Wipfel leuchtet Mondlicht,

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Und der Bär weilt auf den Zweigen.“

     Sprach der Schmieder Ilmarinen:
„Glaube nicht, daß dieses wahr sei,
Wenn ich’s selber nicht gesehen,
Mit den Augen nicht geschauet.“
     Sprach der alte Wäinämöinen:
„Glaubst du es auf keine Weise,
Nun so komm und laß uns schauen,
Ob es wahr ist, ob gelogen!“
     Gingen drauf um zuzuschauen

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Dieser Fichte Blüthenkrone,

Erst der alte Wäinämöinen,
Dann der Schmieder Ilmarinen;
Als sie dahin angekommen,
An den Rand des Osmofeldes
Trat der Schmieder in die Nähe,
Um die Fichte zu bewundern,
Daß der Bär dort in den Zweigen,
In dem Wipfel Mondlicht weilet.
     Sprach der alte Wäinämöinen

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Selber Worte solcher Weise:

„Steig hinauf, o lieber Bruder,
Um den Mond herabzuholen,
Um den Bären herzubringen
Von der Fichte goldnem Wipfel!“
     Ilmarinen, er, der Schmieder,
Klettert auf des Baumes Wipfel
Hoch empor zum Himmelsbogen
Um den Mond herabzuholen,
Um den Bären mitzubringen

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Von der Fichte goldnem Wipfel.

     Sprach die Föhr’ mit goldnem Wipfel,
Sprach die Föhr’ mit schöner Krone:
„O du Mann, der ganz von Sinnen,
O du Held, der unerfahren!
Stiegest, Dummer, in die Zweige,
In die Wipfel wie ein Knabe
Um des Mondes Bild zu holen,
Falsche Sterne mitzunehmen.“
     Rasch begann da Wäinämöinen

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Und mit voller Kraft zu singen,

Sang, daß starker Sturmwind brauste,
Wild der Wind die Luft bewegte,
Redet Worte solcher Weise,
Ließ auf diese Art sich hören:

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_048.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)