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In den weiten Wasserstrecken,
In den ausgedehnten Fluthen;
Kann auch nimmer hier erfahren,
Merken nicht und nicht begreifen,
Wie ich endlich sterben werde,
Was wohl früher wird geschehen,
Ob vor Hunger ich verkomme,
Ob ins Wasser ich versinke.“
Sprach der Aar, der Lüfte Vogel:

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„Sei du keineswegs voll Kummer,

Setze dich auf meinen Rücken,
Richt dich auf am Bürzelknochen,
Will dich aus dem Meere tragen,
Wohin sich dein Sinn auch sehnet;
Wohl gedenk’ ich noch des Tages,
Denke noch der guten Zeiten,
Als die Waldung von Kalewa,
Osmo’s Hain du niederbranntest,
Doch die Birke du verschontest,

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Ihn, den schlanken Baum, dort ließest

Als ein Ruheplatz den Vögeln,
Selber mir zu einem Sitze.“
     Drauf erhebet Wäinämöinen
Seinen Kopf rasch aus den Fluthen,
Steigt dann muthig aus dem Meere,
Hebt sich kräftig aus den Wogen,
Setzt sich auf des Adlers Flügel,
Auf des Vogels Bürzelknochen.
     Fort trägt drauf der Lüfte Vogel

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Wäinämöinen, ihn, den alten,

Führt ihn längs der Bahn der Winde,
Längs des Laufs des Frühlingswindes
Zu des Nordens weiten Gränzen,
Nach dem trüben Sariola;
Ließ dort Wäinämöinen nieder;
Selber rauscht er durch die Lüfte.
     Wäinämöinen weinte dorten,
Weinte dort und wimmert’ ängstlich
An dem Strand des weiten Meeres,

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An der unbekannten Spitze,

Wohl mit hundert Seitenwunden,
Tausendfach vom Wind geschlagen,
Mit dem Barte voller Unrath
Und den wild zersausten Haaren.
     Weinte zwei, ja drei der Nächte,
Weinte eben so viel Tage,
Wußte keinen Weg zu gehen,
Keinen Pfad dort aufzufinden,
Der ihn nach der Heimath führte,

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Nach bekannten Länderstrichen,

In das Land, wo er geboren,
Wo bis dahin er gelebet.
     Nordlands schlankgewachsne Jungfrau
Mit der schönen, weißen Farbe
Hatte mit der Sonn’ gewettet,
Mit der Sonne, mit dem Monde,
Stets zugleich sich zu erheben,
Und zusammen zu erwachen;
Kam jedoch bei weitem früher,

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Vor dem Mond und vor der Sonne,

Eh’ den Hahn sie hören konnte,
Eh’ der Henne Sohn gekrähet.
     Schor dann fünf der schönsten Schafe,
Sechs der allerbesten Lämmer,
Sammelte zum Tuch die Wolle,
Wählt’ sie aus zu dem Gewande,
Lang’ bevor der Morgen graute,
Eh’ die Sonne sich erhoben.
     Wusch darauf die langen Tische,

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Kehrte rein des Bodens Bretter

Mit dem zweigereichen Besen,
Mit der blätterreichen Quaste,
Scharrt den Kehricht dann zusammen
Auf der kupferreichen Schaufel,
Bringt den Unrath fort nach außen,
Durch die Thür zum Ackerfelde,
Zu des letzten Feldes Kante
An des untern Zaunes Ende;
Bleibt dort bei dem Kehricht stehen,

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Horchet auf und dreht den Körper,

Hörte von dem Meer’ her weinen,
Jammern von dem andern Ufer.
     Hastig eilte sie nach Hause,
Eilt’ behende in die Stube,

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_032.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)