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Gegen Nordwest seine Blicke,
Wandte seinen Kopf zur Sonne,
Sah was Schwarzes auf dem Meere,
Auf den Fluthen etwas Blaues:
„Ist das ein Gewölk im Osten,
Ist es etwa Morgendämmrung?“
     Nicht war es Gewölk im Osten,
Keineswegs die Morgendämmrung,
Wäinämöinen war’s der alte,

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Dieser ew’ge Zaubersänger,

Zog dort seinen Weg zum Nordland,
Ritt drauf los zum Düsterlande,
Auf dem Roß, dem strohhalmleichten,
Auf dem erbsenstengelgleichen.
Hastig faßte Joukahainen,
Dieser schwache Lappenjüngling,
Seinen Bogen voller Feuer,
Wendete den wunderschönen
Zum Verderben Wäinämöinen’s,

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Um den Wogenfreund zu tödten.

     Vorher fragte ihn die Mutter,
Forscht ihn aus die greise Alte:
„Gegen wen schufst du den Bogen
Und beschlugst du ihn mit Eisen?“
     Joukahainen gab zur Antwort,
Redet Worte solcher Weise:
„Schuf den Bogen gegen diesen,
Hab’ mit Eisen ihn beschlagen
Zum Verderben Wäinämöinen’s,

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Um den Wogenfreund zu tödten,

Wäinämöinen will ich treffen,
Ihn, den ew’gen Zaubersänger,
Durch das Herz und durch die Leber,
Durch das Schulterfleisch ihm schießen.“
     Sie verbietet ihm zu schießen,
Nicht erlaubte es die Mutter:
„Schieße nicht auf Wäinämöinen,
Auf den Heldensohn Kalewa’s,
Wäinö ist von großem Stamme,

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Meiner Schwester Sohn, mein Neffe.“

     „Tödtest du den Wäinämöinen,
Ihn, den Helden von Kalewa,
Dann ach! schwindet alle Freude,
Schwindet der Gesang von hinnen,
Besser ist die Freud’ auf Erden,
Schöner der Gesang hier oben,
Als in Unterweltsgefilden,
In des Todtenreiches Stuben.“
     Doch der junge Joukahainen

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Dachte nach ein kleines Bißchen,

Hielt zurück sich nur ein wenig;
Trieb die eine Hand zum Schießen,
Schien die andre es zu hindern,
An die Sehne dringt der Finger.
     Redet endlich noch die Worte,
Läßt sich selber also hören:
„Möge immerhin verschwinden
Alle Freude von der Erde,
Mögen alle Lieder schwinden,

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Schießen werd’ ich, nichts beachtend.“

     Spannte seinen Feuerbogen,
Stützt die kupferreiche Waffe
Auf dem linken seiner Kniee,
Stemmt den rechten seiner Füße,
Nimmt den Pfeil dann aus dem Köcher,
Holt hervor den federreichen,
Wählte wohl den allergradsten,
Mit dem allerbesten Schafte,
Diesen that er auf den Bogen,

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Fügt’ er an die Flachsessehne.

     Richtet dann den Feuerbogen
An der rechten seiner Schultern,
Stellt sich hin um loszuschießen
Auf den alten Wäinämöinen,
Redet selber diese Worte:
„Geh nun los, du Birkenspitze,
Strecke dich, du Tannenrücken,
Gleite ab, du Flachsessehne;
Wenn die Hand zu niedrig zielet,

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Mag der Pfeil sich höher richten,

Zielt die Hand zu sehr nach oben,
Mag der Pfeil nach unten gehen!“
     Rasch bewegt er nun den Drücker,
Schoß den ersten Pfeil behende,

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_029.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)