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An den Rand des Kalewbrunnens

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An den Saum des Osmofeldes.

     Sieh, da lärmt vom Baum die Meise:
„Nicht gedeihet Osmo’s Gerste,
Nicht der Hafer von Kalewa,
Wird der Boden nicht bereitet,
Wird die Waldung nicht gelichtet,
Nicht mit Feuer gut gesenget.“
     Wäinämöinen alt und wahrhaft
Ließ ein scharfes Beil sich machen,
Fing die Waldung an zu fällen

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Und den Hain mit Kraft zu schwenden,

Fällte Baume aller Weise,
Ließ nur eine Birke stehen
Als ein Ruheplatz den Vögeln,
Wo der Kuckuck rufen könnte.
     Her vom Himmel kam ein Adler,
Kam geflogen durch die Lüfte,
Kam die Sache anzuschauen:
„Weshalb ward denn so gelassen
Diese Birke unbeschadet,

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Nicht der schlanke Baum gefället?“

     Wäinämöinen gab zur Antwort:
„Deshalb ward sie so gelassen,
Daß die Vögel auf ihr ruhten,
Daß des Himmels Aar hier säße.“
     Sprach der Aar, des Himmels Vogel:
„Gut gewiß ist deine Sorge,
Daß die Birke du gelassen,
Daß der schlanke Baum geblieben
Als ein Ruheplatz den Vögeln,

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Daß ich selber hieselbst sitze.“

     Feuer schlug der Lüfte Vogel
Und verbreitet rasch die Flamme,
Bald versengt den Busch der Nordwind,
Nordost setzte ihn in Asche,
Brannte alle Bäume nieder,
Bis in Staub sie ganz zergingen.
     Wäinämöinen alt und wahrhaft
Holt hervor der Körner sechse,
Holt die sieben Samenkörner

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Aus dem Mardersack behende,

Aus der Haut des Sommereichhorns,
Aus dem Sommerfell des Iltis.
     Ging sodann das Land besäen,
Ging den Samen auszustreuen,
Redet selber diese Worte:
„Werfe jetzo diesen Samen
Durch des Schöpfers Fingerspalten,
Mit der Hand des Machterfüllten
Hin auf dieses Land zu wachsen,

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Aus dem Boden hier zu sprossen.“

     „Alte, die du unten weilest,
Erdenmutter, Flurengöttin,
Bring’ den Rasen nun zum Drängen,
Bring’ die Erde du zum Treiben;
Nimmer wird die Kraft der Erde,
Nimmer ihre Macht je fehlen,
Wenn die Geberinnen Gnade,
Huld der Schöpfung Töchter leihen.“
     „Steig, o Erde, auf vom Schlafe,

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Von dem Schlummer, Land des Schöpfers,

Laß die Halme sich erheben,
Laß die Stengel auf sich richten
Tausend Ähren auferstehen,
Hundertfach sie sich verbreiten
Durch mein Ackern, durch mein Säen,
Da ich also mich bemühe!“
„Ukko, du, o Gott dort oben,
Du, o Vater in dem Himmel,
Der du in den Wolken waltest

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Und die Wölklein alle lenkest!

Halte Rath du in der Wolke,
Guten Rath du in den Lüften,
Schick’ aus Osten eine Wolke,
Laß aus Nordost sie erscheinen,
Sende andre her von Westen,
Schneller welche aus dem Süden,
Sende Regen von dem Himmel,
Laß die Wolken Honig träüfeln,
Daß die Ähren sich erheben,

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Daß die Saaten munter rauschen.“

     Ukko, er, der Gott dort oben,
Er, der Vater in dem Himmel,

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_009.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)