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Schön gestaltet alle Splitter:
Aus des Eies untrer Hälfte
Wird die niedre Erdenwölbung,
Aus des Eies obrer Hälfte
Wird des hohen Himmels Bogen;
Was sich Gelbes oben findet,
Strahlet schön als liebe Sonne,
Was sich Weißes oben findet,

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Leuchtet hold als Mond am Himmel;

Von dem Hellen in dem Eie
Werden Sterne an dem Himmel,
Von dem Dunkeln in dem Eie
Wird Gewölke in den Lüften.
     Und die Zeiten schwinden rascher,
Immer fort und fort die Jahre
Bei der jungen Sonne Leuchten,
Bei des jungen Mondes Glanze;
Immer schwamm die Wassermutter,

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Sie, der Lüfte schöne Tochter,

In den schlummerstillen Wellen,
Auf der nebelreichen Fläche,
Vor sich hatte sie die Fluthen,
Hinter sich den hellen Himmel.
     Endlich in dem neunten Jahre,
Zu der Zeit des zehnten Sommers
Hebt ihr Haupt sie aus dem Meere,
Ihre Stirn sie aus dem Wogen,
Jetzt beginnt bei ihr das Schaffen,

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Fängt sie an hervorzubringen

Auf dem klaren Meeresrücken,
Auf den weiten Wogenflächen.
     Wo die Hand nur hin sie wandte,
Da entstanden Landesspitzen,
Wo sie mit dem Fuße ruhte,
Grub gar rasch sie Fischesgruben;
Wo ins Wasser sie sich tauchte,
Senkten sich des Meeres Tiefen.
     Wo die Hüfte hin sie wandte,

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Da erschienen ebne Ufer,

Wo den Fuß zum Land sie lenkte,
Da entstanden Lachsesschluchten,
Wo der Kopf dem Lande nahte,
Da erwuchsen breite Buchten.
     Schwamm noch weiter von dem Lande,
Ruht’ ein wenig auf dem Rücken,
Schuf so Klippen in dem Meere,
Riffe, die dem Aug’ verborgen,
Wo die Schiffe oft zerschellen,

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Wo der Männer Leben endet.

     Schon geschaffen waren Inseln,
Klippen in dem Meer begründet,
Festgestellt der Lüfte Pfeiler,
Flur und Felder schon geschaffen,
Bunt die Steine schon gesprenkelt,
Schön gefurchet schon die Felsen,
Wäinämöinen nur der Sänger
War und blieb noch ungeboren.
     Wäinämöinen alt und wahrhaft

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Wandert noch im Leib der Mutter

Dreißig Sommer nach einander,
Eine gleiche Zahl von Wintern
In den Wellen voller Ruhe,
Auf der weichen Wogenfläche.
     Dachte nach und überlegte,
Wie zu sein und wie zu leben
In dem nimmerhellen Raume,
In der unbequemen Enge,
Wo er nicht das Mondlicht schaute,

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Nicht den Sonnenschein gewahrte.

     Sprach darauf mit diesen Worten,
Ließ auf diese Art sich hören:
„Bring, o Mond, und bring, o Sonne,
Bringe mich, o Bär am Himmel,
Von den ungewohnten Thüren,
Von den unbekannten Pforten,
Hier aus diesem kleinen Neste,
Aus dem engen Aufenthalte!
Daß ich auf der Erde wandre,

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Wie ein Menschenkind im Freien,

Daß des Himmels Mond ich schaue,
Daß die Sonne ich gewahre,
Daß den Bären ich erblicke,
Daß die Sterne ich betrachte!“
     Da der Mond ihn nicht befreiet,

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_004.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)