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ins Nebenzimmer. Sofort schlug der Mann auf der Bahre die Augen auf, wandte schmerzlich lächelnd das Gesicht dem Herrn zu und sagte: „Wer bist du?“ – Der Herr erhob sich ohne weiteres Staunen aus seiner knieenden Stellung und antwortete: „Der Bürgermeister von Riva.“

Der Mann auf der Bahre nickte, zeigte mit schwach ausgestrecktem Arm auf einen Sessel und sagte, nachdem der Bürgermeister seiner Einladung gefolgt war: „Ich wußte es ja, Herr Bürgermeister, aber im ersten Augenblick habe ich immer alles vergessen, alles geht mir in der Runde und es ist besser, ich frage, auch wenn ich alles weiß. Auch Sie wissen wahrscheinlich, daß ich der Jäger Gracchus bin.“

„Gewiß“, sagte der Bürgermeister. „Sie wurden mir heute in der Nacht angekündigt. Wir schliefen längst. Da rief gegen Mitternacht meine Frau: Salvatore, – so heiße ich – sieh die Taube am Fenster. Es war wirklich eine Taube, aber groß wie ein Hahn. Sie flog zu meinem Ohr und sagte: ‚Morgen kommt der tote Jäger Gracchus, empfange ihn im Namen der Stadt.“

Der Jäger nickte und zog die Zungenspitze zwischen den Lippen durch: „Ja, die Tauben fliegen vor mir her. Glauben Sie aber, Herr Bürgermeister, daß ich in Riva bleiben soll?“

„Das kann ich noch nicht sagen“, antwortete der Bürgermeister. „Sind Sie tot?“

„Ja“, sagte der Jäger, „wie Sie sehen. Vor vielen Jahren, es müssen aber ungemein viel Jahre sein,

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Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer (Sammelband). Gustav Kiepenheuer, Berlin 1931, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kafka_Beim_Bau_der_Chinesischen_Mauer_046.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)