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 Die Irvingianer protestiren bekanntlich dagegen, daß man ihnen für gewisse bedenkliche und sogar ketzerische Lehren Irvings die Verantwortung aufbürdet. So wollen wir sie denn auch für die obige fast lästerliche Rede Irvings gegen die Rechtfertigungslehre nicht verantwortlich machen, ebenso wenig für seine Irrlehre von der sittlichen Beschaffenheit der menschlichen Natur Christi, in der z. B. Rudelbach die eigentliche Wurzel der irvingianischen Irrtümer finden wollte. Und in der That ließe sich sehr leicht ein Zusammenhang nachweisen zwischen den irrigen Anschauungen Irvings von der menschlichen Natur in Christo und seinen Ansichten über die Rechtfertigung und Heiligung, sowie über die Möglichkeit der Erlangung eines vollkommenen Grades der Heiligung. Indessen wir wollen darüber weggehen und nur darauf hinweisen, daß uns auch bei den Irvingianern (nicht blos bei Irving selbst) eine Anschauung von der Heiligung begegnet, die fast an die berüchtigte Pearsall Smith’sche Lehre von der Erreichbarkeit einer „vollkommenen Heiligkeit“ anstreift. Schreibt doch selbst ein so besonnener und gemäßigter Mann wie Thiersch in seinem 1877 erschienenen Schriftchen „Über die Gefahren und Hoffnungen der christlichen Kirche“ S. 15: „Christus hat in unserer sterblichen Menschennatur vollkommene Heiligkeit zu Stande gebracht, und bei denen, die Ihn aufnehmen und mit Ihm in Gemeinschaft treten, wirkt er dasselbe durch Seinen Geist“. Daß bei einer solch überwiegenden Betonung der Heiligung die Rechtfertigung zurücktreten muß, liegt auf der Hand.

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 Ein dritter Grundsatz unserer Kirche ist die Behauptung, daß man Glaubenslehren nur auf helle und klare Sprüche der heil. Schrift gründen dürfe, daß man überhaupt bei der Auslegung der heil. Schrift an den Wortsinn sich halten müsse. Der Irvingianismus aber pflegt mit Vorliebe die sog. allegorische d. h. geistliche Auslegung und Ausdeutung der Schrift und zwar der alttestamentlichen Schrift. Nun läugnen wir zwar nicht im mindesten, daß die Geschichte und namentlich das ganze gottesdienstliche Wesen des Alten Testamentes eine Weissagung auf die Kirche und den Neutestamentlichen Gnadenhaushalt sei, wie uns denn der Hebräerbrief im Einzelnen hierüber tiefsinnige und ahnungsvolle Aufschlüsse gibt. Aber wir behaupten, daß wir kein Recht haben, unsere eigenen, über die apostolischen Aufschlüsse hinausgehenden Gedanken und menschlichen Fündlein auf gleiche Linie mit den authentischen Deutungen durch die heiligen Schreiber des Neuen Testamentes zu stellen. Dies wunderbare Spiel der mannigfaltigen göttlichen Weisheit (Eph. 3, 10) wird uns erst die Ewigkeit enthüllen. Was soll man z. B. zu solchen Auslegungen sagen, wie sie sich in einer irvingianischen Schrift über die Stiftshütte finden, und rücksichtlich deren man nur zweifeln kann, ob die Willkür oder Geschmacklosigkeit dieser Auslegungsweise größer ist. In jener Schrift werden z. B. die rothgefärbten Widderfelle der Stiftshütte auf die Gemeindevertretung durch die Diakonen gedeutet, weil der Widder zu derselben Classe wie das Schaf gehöre und der Leiter der Schafe unter der Hand des Schäfers sei. Die Farbe der Felle deutet auf die höhere Stellung, welche der Diakon in der Kirche einnimmt. Sie ist keineswegs eine Eigenschaft, welche ihm von Natur