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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

wäre, wenn Mickiewicz die Herausgabe seiner Vorlesungen selbst übernommen hätte, auch wenn wir noch ein Jahr auf die Erscheinung derselben hätten warten sollen: so müssen wir doch anderseits auch wieder der Redaction des Dz. nar. uns zu Dank verpflichtet fühlen für ihre Gabe, da wir sonst vielleicht ganz um dieses eben so interessante als wichtige Werk hätten kommen können.

 Der „Kursus“ von Mickiewicz ist nicht etwa eine Geschichte der slawischen Literatur; eine solche zu geben lag nicht in seiner Absicht, noch hielt er es für seiner Stellung angemessen. In der Einleitungsvorlesung zu diesen zweiten Kurs sagt er ausdrücklich: es handle sich hier nicht um die Literaturgeschichte der vielen slawischen Völker; und setzt hinzu: so oft es dann bei der Ueberfülle des Gegenstandes nothwendig werde, einen Augenblick inne zu halten und sich umzusehen, um sich nicht zu verirren, um alles unter einen Gesammtblick zusammenzufassen: dann müsse er sogar das slawische Land ganz und gar verlassen, und sich auf einen höheren, allgemeinen Standpunkt stellen, ja selbst dem Westen seine philosophische Sprache entlehnen und die Idee des Slawenthums mit der Europa’s verknüpfen. So habe er es im vorigen Kurse gethan, so wolle er es auch in diesem halten.

 Der Zeitraum vom Ende des XVII. bis zum Anfang des XIX. Jahrhunderts soll in seinen literarischen Werken der Politik, Philosophie und der Kunst die Materialien zu den Untersuchungen für den folgenden Kurs liefern. Dieser Gegenstand wird sich leichter behandeln lassen, weil die Slawen in dieser Zeit bereits an den Geist Europa’s sich anzuschliessen begannen. Hier waren die Uranfänge zu der gegenwärtigen allgemeinen Regung unter den slawischen Völkerschaften, deren Grundidee der Autor zu einem Hauptgegenstande seiner Entwickelung machen wolle. (I. Lect.) — Das Jahr 1620 ist der Wendepunkt für die Geschichte der slawischen Literatur; hier brach die böhmische zusammen, die polnische fing an, ihrem Falle sich zu nähern, und in Russland sank die slawisch-kirchliche immer tiefer hinab; an ihrer Stelle erhob sich aber nur langsam die neurussische oder moskowische im Volksdialekte. Sie wurde anfangs vom polnischen Geiste beherrscht; aber allmählig verlor sich die Macht desselben; die Jesuiten begannen alle geistige Kraft an sich zu reissen, um jeden Fortschritt zu hemmen; die Scholastik fing ihr Wesen an zu treiben, und Schwülstigkeit und schmachvolle Lobhudelei herrschten in der Literatur. Unter diesen Umständen erhob sich auch in Polen die Volkssprache, deren schönstes Denkmal aus jener Zeit die Memoiren von J. Chr. Pasek sind, aus denen Mickiewicz vieles Interessante zur Charakteristik jener Tage beibringt. (II. Lect.) Nun wurde bald das Franzosenthum herrschend in Polen, und Warschau hatte bereits 1650 ein polnisches Theater. Allein eben weil es französisch war, blieb es dem Geiste der Nation fremd. Dann kamen die Schweden in das Land und bedrohten die Selbstständigkeit des Staates; aber kein inländischer Historiker berichtet das Unglück jener Tage, wo Polen von seinen eigenen Söhnen verlassen und an Schweden übergeben wurde. Der unglückliche Jan Kazimir war nach Schlesien geflohen, das ganze Land dem Feinde überlassen; nur ein Mönch blieb treu dem Vaterlande und seiner Nation und vertheidigte im unerschütterlichen Vertrauen auf Gottes Hülfe den einsamen Felsen von Czenstochow mit einigen Hunderten gegen viele Tausende; und stellte damit den glänzendsten Beweis dafür auf, dass in dem Glauben „an einen unmittelbaren Einfluss der unsichtbaren Welt auf die sichtbare die eigentliche moralische und politische Kraft Polens“ liegt. Die Memoiren Kordecki’s sind das einzige, aber ein herrliches Denkmal jener Zeit (Lect. IV.) Der Verfasser geht nun (Lect. V.) auf die gleichzeitige Geschichte Russlands über; er zeigt, wie seit der Erhebung des Hauses Romanow auf den russischen Thron das Fremdenthum immer mehr überhand nahm; Deutsche, Franzosen, Engländer strömten schaarenweise nach Russland; eine slawische Sitte nach der andern wurde vernichtet; den tiefsten Schlag versetzte dem slawischen Elemente die Aufhebung des mjestniczestwo (wornach unter den Bojaren der ältere im Staatsdienste immer einen Vorzug genoss vor dem jüngern) und des öffentlichen Gerichtsverfahrens, dieses urslawischen Staatselementes durch Einführung der „geheimen Kanzelei.“ Durch beide Massregeln indess wuchs die Macht des Staatsoberhauptes. In Polen dagegen kam um dieselbe Zeit das fürchterliche Veto auf, das alle Bande der Ordnung zerstörte, und jede literarische Bestrebung mit dem Lärmen der Kriegstrompete übertäubte. Russland bekam um diese Zeit ein neues Leben durch Peter den Grossen. (Lect. VI.) Seine Reformen verwandelte Russland nach Grundsätzen, die ganz antislawisch waren. Nun wurde die grossrussische Volkssprache zur Geschäftssprache gemacht, (Lect. VII.) und das war ein ungemein wichtiger Schritt, der, wenn er auch nicht im Stande war, alle den die nationale Literatur und Kunst Russlands vernichtenden Einfluss der Gewaltigen zu polarisiren, doch den Keim zu der spätern nationalen Entwickelung in sich trug. Durch denselben ward die Geistlichkeit anfangs von allem Einfluss auf die Literatur ausgeschlossen — sie sprach die Kirchensprache — und der Ausgangspunkt der neuen Literatur aus dem Leben des Volkes oder des Staates nothwendig gemacht. Sie entwickelte sich in Russland aus dem beides in sich vereinigten Militairstande; und da dieser von dem durch Peter hereingebrachten fremden Geiste beherrscht wurde, athmeten auch die ersten merklichen Erscheinungen derselben nur ausländischen Geist; Kantemir schrieb in russischen Worten, aber französische Gedanken und französischen Witz; so zwar, dass ihn einzelne Literaturhistoriker sogar als der russischen Literatur nicht angehörend übergehen. Von einer russischen

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 69. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/80&oldid=- (Version vom 8.10.2022)