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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

Oberschlesien werden immer vollständiger. Wie das Königreich (?) mit Oberschlesien in industrieller Hinsicht immer mehr in ein engeres Band tritt, desto mehr nähern auch wir uns demselben in wissenschaftlicher Hinsicht. Den Anfang dazu machte die kleine Gedichtsammlung des Lehrers Lompe; seit dem begann eines von den gelehrten Gliedern unsers Ausschusses die Volkslieder Oberschlesiens zu sammeln, um die sich bisher Niemand von unseren Gelehrten gekümmert hat[1], und deren weder Żegota Pauli noch Wojcicki erwähnt. Diese Sammlung hat schon über dreihundert Lieder. Die interessantesten davon wurden dem Ausschusse mitgetheilt; was uns aber eine besondere Freude machte, war, dass einige von ihnen die neuesten Zeitereignisse, wie z. B. die Regulirung der Bauern und die Meutereien, die dabei vorfielen, wie die Expedition nach Twarkow zum Gegenstande haben. Diese Lieder beweisen am besten, dass der Urquell der schöpferischen slawischen Phantasie unter diesem Volke trotz dem vierhundertjährigen Einfluss des Germanenthums noch nicht versiegt ist; diese urgeborne Körnigkeit zeugt für die Lebenskraft des unterdrückten Volkes der Schlesier; viel eher sind seine Fürsten ihren Ahnen, den Piasten, als das Volk seinem Stamme untreu geworden.“

 Auf diese Weise wirken die drei Vereine höchst wohlthätig auf den gegenwärtigen und besonders den nächstfolgenden Zustand der polnischen Nation in Preussen ein; und wenn sie besonders die untern Klassen des Volkes zum Gegenstande ihrer Bestrebungen erwählt haben, so kann man ihnen dafür um desto mehr Dank wissen, je mehr Noth es that, für diese etwas zu thun, und je weniger Hoffnung man hatte, dass etwas für sie geschehen würde. Aber gerade darum ist die Thätigkeit dieser Vereine auch um so wichtiger, und wir werden es für eine unserer angelegentlichsten Pflichten halten, getreuen Bericht über die Wirksamkeit derselben abzustatten. Vom Volke aus muss eine Regeneration des polnischen Lebens ausgehen; der Aristokratismus hat seine Machtlosigkeit hinlänglich und leider zu oft schon dargethan.

4. Kritiken.

Начертаніе словянской миѳологіи Entwurf einer slawischen Mythologie von Mich. Kastorski. Petersburg 1841. Fischer. 8. IV 182 Seiten.

Die Wissenschaft des slawischen Mythus im weitesten, den altpreussisch-lithauischen Mythus mit umfassenden Sinne. Nach Quellen bearbeitet, sammt der Literatur der slawisch-preussisch-lithauischen Archäologie und Mythologie. — Als ein Beitrag zur Geschichte der Entwickelung des menschlichen Geistes entworfen von Dr. Ignaz Johann Hanusch, öffentl. ord. Professor d. Filosofie (sic) und ihrer Geschichte an der k. k. Universität zu Lemberg. Lemberg, Stanislawów u. Tarnow. 1842. Verlag von Joh. Millikowski. 8. XX u. 432 Seiten.

 Zwei Werke über einen weniger bearbeiteten Gegenstand, die ziemlich zu gleicher Zeit erschienen und somit von uns zugleich besprochen werden dürfen. Zuerst also den Inhalt des deutschen als des umfassenderen.

 I. Nachdem der Verfasser desselben unter A. den Begriff des Mythus und der Mythologie fester bestimmt und unter B. denselben näher erörtert hat, findet er in Hinsicht des Geistes, der im Mythus überhaupt lebt, drei mögliche Hauptarten, welche historisch durch den indischen, persischen und griechischen Mythus personificirt sind; und sagt, der slawische Mythus berühre sowohl seiner Zusammengesetztheit, als seiner genetischen Fortentwickelung wegen die Gebiete aller drei Arten der Mythen (S. 6). Mit sichtlicher Vorliebe wird dann unter F. der Nationalcharakter der alten Slawen behandelt. In dem folgenden Abschnitte nun gibt der Verfasser zwar zu, dass die jetzt europäischen Völkerschaften ihre Mythen einander gegenseitig mittheilten; aber die Ansicht, als sei der slawische Mythus ein Aggregat fremder Mythenelemente (und nichts Selbstständiges) oder als sei derselbe nichts anders als eine Copie des indischen, weiset er mit aller Kraft zurück. Das Wesen des slawischen Mythus, meint er, bestehe im Gegentheil darin, dass er neben den alten orientalischen


  1. Unsers Wissens hat Prof. Hoffmann von Fallersleben in Breslau eine ansehnliche Sammlung schlesisch-polnischer Volkslieder, worauf wir aufmerksam machen.
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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/75&oldid=- (Version vom 7.10.2022)