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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

die Palme der Superiorität gebührt unter allen russischen Romanschriftstellern ohne Widerspruch dem Dal’-Luganski. Er fühlte Sympathie für die Sprache, in welcher er aufgewachsen und erzogen war, aber er sah auch zugleich die Unmöglichkeit ein, dieselbe ohne Weiteres zur Schriftsprache zu erheben. So blieb ihm also nur das einzige Mittel, sich für einen russischen Mährchenerzähler auszugeben und uns so ein neues Bild dieser bereits vergessenen Umgangssprache zu zeigen — zuerst in dem künstlichen Gewande unserer nationalen Sage. Aber in dem Masse, als sich das Talent dieses beachtungswerthesten Schriftstellers entwickelte, zeigte sich auch in seiner Erzählung und seiner Sprache eine ausserordentliche Veränderung. Auch früher schon hatte sich in der Erzählung unter einem phantastischen Schleier die tiefe Ahnung eines eigenthümlichen russischen Wesens, einer neuen Welt, verborgen; allmälig aber bereicherte sich diese Ahnung durch neue Erfahrungen und gedieh zu immer grösserer Reife, bis sie endlich in eine erschöpfende praktische Ansicht von dem ganzen Wesen des russischen Volkes sich umgestaltete: und so entwickelte sich aus der phantastischen Erzählung Dal’-Luganski’s die schöne, tief innige russische nationale Erzählung, welche ein vollständiges und allseitiges Bild des häuslichen Lebens in Russland darstellt. — Den Schritten Dal’-Luganski’s folgte Weltman in derselben Kathegorie. Er vereinte in der Sprache seiner historischen Romane die Wissenschaft der alten russischen Sprache und der Umgangssprache des Volkes mit der Kenntniss der andern slawischen, besonders der südlichen Dialekte und war der erste unserer Schriftsteller, welcher aus denselben mit vielem Geschick eine Reihe glücklicher Ausdrücke uns zuzueignen wusste. — Skobelew entdeckte in seiner militairischen Diction eine neue Quelle für die russische Umgangssprache. Snjegirew, Sacharow, Passek, Maksimowicz und andere, wirken durch Herausgabe der Sprichwörter, Lieder und Sagen, durch Beschreibung der Sitten und Gewohnheiten des russischen Volkes, durch Aufklärung von alten Denkmälern und dergleichen, auf gelehrtem Wege für die Wiederherstellung des Urelementes, welches die Grundlage der russischen Sprache bildet. — Nachdem er so die wichtigsten Schriftsteller der Gegenwart aufgezählt, geht Schewirjew auf die des zweiten Ranges über, zu denen er Masalski, den Baron Korf, Baschucki, Kamjenski, Grebenka, Polewoj und Kukolnik rechnet. Von den letzteren Beiden bemerkt er, es sei ihre Bestimmung, nicht mit eigenem Lichte zu glänzen, sondern den weitesten Raum zu umfassen.

 Nach einer so umfassenden Schilderung der eigentlichen belletristischen Literatur geht der Verfasser auf die kirchliche über und behauptet, sie nähme in der Gegenwart immer mehr und mehr eine nationale Richtung an; ein besonderes Verdienst darum habe der Metropolit Philaret und seine Nachfolger. Tiefe Innigkeit und eine erhabene religiöse Milde zeigt sich in den Predigten Innokenti’s. Uebrigens arbeiten auch mehrere weltliche Schriftsteller mit grossem Nutzen für die kirchliche Literatur; darunter gehört besonders Murawjew wegen seines populären Styls. „Am wenigsten ausgebildet (fährt der Verfasser fort) ist bei uns die wissenschaftliche Sprache. Aber auch hier geben die Arbeiten der vielen Gelehrten auf den verschiedenen russischen Universitäten glänzende Hoffnungen. Das gleichzeitige Erscheinen vieler vortrefflichen Werke in den verschiedenen Zweigen der Wissenschaft spricht gar sehr für die nationale Richtung derselben, welche mit Triumpf dahin strebt, sich in der Nationalsprache geltend zu machen. Die Philosophie bereichert die russische Terminologie — Dank den Anstrengungen der gelehrten Geistlichen: Golubinski, Sidonski, Karpow, Gabriel, und der weltlichen Philosophen: Wellanski, Pawlow, Dawydow, Dmitrijew, Nowicki und Anderer. Die slawisch-russische Philologie erwartet an dem „Evangelium von Ostromir mit grammatischen Erläuterungen“ von Wostokow eine Riesenarbeit. Bodjanski, Preis und Sreznjewski bereiten sich vor, auf den Lehrkanzeln der slawischen Dialekte ihre gesammelten Schätze der Welt vorzulegen. Die Literatur als Wissenschaft fand vortreffliche Bearbeiter an Dawydow, Maksimowicz, Pletnjew und Nikitenko. Das Recht bearbeiteten: Newolin (Encyklopädie der Rechtskunde in zwei Bänden), Moroschkin, welcher die russische Rechtsgeschichte, Danilowicz, der das alte

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/71&oldid=- (Version vom 6.10.2022)