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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

2. Gegenwärtige Richtung der russischen Literatur.
Nach Prof. Schewirjew.

 Das erste Heft des vom Prof. Pogodin herausgegebenen Moskwitjanin enthält einen Artikel von dem durch seine kritischen Arbeiten, besonders durch seine Geschichte der Poesie rühmlichst bekannten Prof. Schewirjew in Moskaw, aus welchem wir seiner Tüchtigkeit wegen das Interessanteste hier mittheilen.

 In der ersten Abtheilung seines Artikels gibt Prof. Schewirjew eine kurze Skizze der Geschichte der russischen Literatur; er zeigt, wie sich dieselbe aus dem kirchlichen, dem dynastischen und dem nationalen Elemente Russlands allmählig in der vorliegenden Gestalt entwickelte und unter ihren Chorführern Lomonosow, Karamzin und Puschkin von der einseitig-höfischen Richtung zu der allgemein europäischen Bildung sich erheben, dann aber wieder als zu ihrem Schlussstein zu der rein nationalen Eigenthümlichkeit zurückkehren musste, wenn sie den Bedürfnissen und Erwartungen der Nation irgendwie entsprechen wollte. Nachdem er so den Gang näher bezeichnet, den die russische Literatur bis auf Puschkin und die Gegenwart genommen, geht er auf ihren gegenwärtigen Zustand, auf ihre nächsten Aussichten und Hoffnungen über. Seinen umfassenden Gegenstand theilt er in fünf Theile ein; im ersten stellt er den gegenwärtigen Stand der russischen Sprache und des Styles dar, im zweiten giebt er eine Skizze der Thätigkeit der russischen Dichter und ihres Strebens nach Originalität, im dritten stellt er ein Bild der Prosaiker, besonders der Roman- und Novellenschreiber auf, im vierten zeigt er den Einfluss der Ausländer auf die russische Literatur, im fünften endlich entfaltet er ein allgemeines Bild der Civilisation in Russland überhaupt.

 Bei der Behandlung des ersten Theiles wirft sich der Verfasser folgende drei Fragen zur Beantwortung auf: In welchem Grade hat sich die russische Sprache in der Gegenwart entwickelt? was verspricht sie für die nächste Zukunft? und welche Mängel muss man ihr gegenwärtig zur Last legen?

 Zur Beantwortung dieser Fragen ist es nothwendig, den Einfluss zu untersuchen, den Karamzin auf die russischen Schriftsteller ausgeübt hat und noch ausübt. „Zwölf Jahre sind verflossen, sagt Schewirjew, seit der letzte Band der Geschichte Karamzin’s erschienen; und ich frage alle gegenwärtigen Schriftsteller, alle, welche für die jetzige Literatur arbeiten: wer war ihr Lehrer, nach wessen Muster hat ihr Styl sich gebildet? In der That, es können Veränderungen eingetreten sein, in Folge des persönlichen Charakters eines oder des andern Schriftstellers, zu Folge der Art ihrer Schöpfungen; es können Neuerungen stattgefunden haben im Gebrauche einiger einzelnen Wörter: aber lernet unterscheiden, ihr Männer, die zufälligen Abweichungen im Style von den allgemeinen Formen der Sprache, welche immer noch dieselben bleiben und sich nicht verändern konnten, seit sie einmal festgestellt durch Karamzin. In dem einen Schriftsteller sieht man das fröhliche, üppige Spiel der Phantasie, in dem andern glüht ein starkes Gefühl, in dem dritten ist Alles erstarrt zu eisiger Kälte durch die Idee; alle diese individuellen Zeichen spiegeln sich bei Jedem ab in dem Charakter seines Styls; ein nationeller Roman, eine weltliche Erzählung, ein provinzielles Lustspiel, Volkssagen, ein gelehrtes Buch mit der Prätension neue Gedanken zu verbreiten, eine gelehrte Abhandlung, ein Journalartikel, das Feuilleton eines Tageblattes, können nicht in einem und demselben Styl geschrieben seyn, aber sie können mit einander übereinstimmen in der Gleichheit der Sprachformen. Ich frage die Geschlechter, welche jetzt herangezogen werden: welchen Meister werden sie sich auswählen unter den vorhandenen Schriftstellern, wenn sie eine bessere Sprache bilden wollen, statt der in classischen Formen entwickelten, welche ja doch das Eigenthum aller Gebildeten seyn soll? Was für ein Muster werden sie nehmen, die Geschichte Karamzin’s, oder eines von unseren bogenreichen Journalen? Ich frage, bei wem haben unsere anderen Lehrer: Źukowski, Batjuschkow, Puschkin

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/63&oldid=- (Version vom 5.10.2022)