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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

 Eigenthümlich, aber höchst charakteristisch ist die Sage, welche der geehrte Verf. unter der Ueberschrift „Ragaina“ mittheilt. Sie ist von bedeutendem Umfange (38 Seiten) und nicht nur vortrefflich durch wahrhaft poetischen Werth, sondern auch interessant durch den Gegenstand, den sie bespricht. Ein grosses Riesengeschlecht bewohnte ehemals die Länder Litthauens; allein durch Schicksals Mund ist sein Untergang vorher verkündet, sobald dem König eine Tochter geboren wird, welche nicht mehr Riesin ist. Ragaina ist dieses Mädchen. Ihr Vater sinkt in den ewigen Todesschlaf und sie allein steht da auf der Riesenburg, verlassen von Allen und einsam. Aber einen Zauber hat ihr Vater gelegt in den Schlüssel, welcher das Thor in die Burg öffnet. Eine wilde Schaar kommt heran geschwommen auf dem Njemen, findet den Schlüssel auf dem Steine vor dem Thore liegen und jubelt in der Hoffnung, die Burg zu besteigen. Allein Keiner vermag den Schlüssel zu heben, denn Keiner vermag den Namen zu nennen der Jungfrau, der Herrscherin des Schlosses, welche an der Zinne steht und auf die Fläche hinabblickt:

Hell wie Licht erglänzte ihr Kleid,
War geschmückt mit goldenen Sternen;
Und es wallten ihr dunkle Locken
Um das wunderbar schöne Antlitz;
Aber wie ein Strahl von der Sonne
Durch des Waldes Dunkel, so schlang sich
Durch ihr Haar ein goldener Reif,
Tragend die silbernen Mondeshörner.

 Da kommt der junge Held Litwo auf weissem Ross herangesprengt, erblickt die Jungfrau und erkennt sogleich das Bild, das er im Traume gesehen.

Sinken liess er die Zügel
Und hob die Arme entgegen
Der schönen Maid auf der Zinne
Und rief, dass es wiederhallte
Von Nemona’s (des Niemens) bergigen Ufern
Und von den Mauern der Burg:
Ich kenne dich, Tochter der Riesen,
Du bist für Litwo bestimmt.
Bald küss’ ich, herrliche Jungfrau,
Auf deinen blendenden Schultern
Die Zeichen der himmlischen Abkunft,
Das doppelte Horn des Mondes,
Das Abbild des Morgensterns!
Mein ist die Burg deiner Väter,
Denn du, Ragaina, bist mein!

 Und mit Leichtigkeit erhebt er den Schlüssel und die Fluren ertönen von lautem Jubelgeschrei. — Ein eigenthümlicher Mythus, dessen tiefere Bedeutung, die Einnahme des Landes durch die Litthauer, in jedem Zuge herrlich hervorleuchtet.

 Die Bearbeitung lässt in der That nichts zu wünschen übrig und nur zweierlei müssen wir bedauern, dass der Verf. nicht Mehreres uns liefert, weil nach seinem eigenen Wort es in der Brust des Litthauers „blüht und glüht von Liedeswonnen,“ und dann, dass die slawischen Volkslieder bisher noch keinen so tüchtigen Bearbeiter gefunden haben, weil sie bei ihrer zahllosen Menge und ihrer Schönheit sonst auch in Deutschland in ganz anderem Ansehen stehen müssten, als jetzt.


Empfohlene Zitierweise:
J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 367. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/378&oldid=- (Version vom 14.2.2021)