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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

Ausgabe des grossen Werkes in Massen ankaufen würde, wenn es nur zu etwas niedrigerem Preise gegeben würde.

 Litthauische Volkslieder und Sagen. Bearb. von Wilh. Jordan. I. Berlin 1844, Springer. VI u. 104 S. Wir hatten bereits einige Male Gelegenheit, zu bemerken, dass sich bei keiner Nation das Volkslied in der besonderen Weise und bis zu solcher Vollkommenheit entwickelt habe, wie bei den Slawen und den mit ihnen zunächst verwandten Litthauern. Wir finden diese Behauptung durch vorliegende Sammlung nur noch mehr bestätigt. Selbst unter der Hülle der deutschen Bearbeitung, welche doch durch den deutschen Sprachcharakter von dem Urtypus des Originals so vieles verwischen muss, wird jeder Slawe in den vorliegenden Liedern eher die seiner eigenen Nation, als die einer fremden finden. Wer erinnert sich nicht einiger slowakischen, vorzüglich aber mehrerer Kosakenlieder, wenn er folgendes Lied zu lesen bekommt:

Dreifache Trauer.

Als über jene Brücke
Der schöne Heinrich ritt,
Hat sich das Ross gebäumet,
Dass er herunter glitt.

Ein allzukühles Bettlein
Des Stromes Tiefe war;
Er ist sogleich darinnen
Entschlafen für immerdar.

Vom Teich des Königs flogen
Drei Schwäne durch die Luft
Und liessen sich hernieder
Auf des schönen Heinrichs Gruft.

Der eine Schwan zu Füssen,
Zu Häupten der and’re liegt,
Und an des Grabes Seite
Sich still der dritte schmiegt.

Es ruht die Braut zu Füssen,
Zu Häupten die Schwester liegt,
Und an des Hügels Seite
Sich still die Mutter schmiegt.

Da sind aus ihren Augen
Viel Thränen vorgethaut;
Es hat die Braut drei Monde
Geschrien, gejammert laut.

Die Schwester hat gesprochen
Von ihrem Herzeleid,
Bis dass die Erde anzog
Das dritte Frühlingskleid.

Die alte, graue Mutter
Hat still um ihn geweint,
Bis dass sie mit dem Sohne
Im Grabe lag vereint.

 Ganz derselbe Ideengang, dieselben Gedanken finden sich in einem Gedichte aus Bielowski’s Dumken, wo der Jüngling fällt, die Geliebte vor Herzeleid schreit und klagt, die Schwester drei Jahre Trauer trägt, die Mutter aber täglich still zur heiligen Messe geht, bis sie stirbt. Mehr im Charakter der russischen Lieder scheint uns das folgende:

Das Mädchen an den Ahorn.

Da grünst du, schattiger Ahorn,
Vor meines Vaters Thür!
Wirst nicht mehr lange grünen,
Das prophezei’ ich dir!

Zween junge Brüder hab’ ich,
Die werden dich zerhau’n.
„Was woll’n sie aus mir machen?“
Sich einen Schlitten bau’n.

Und einen leichten Nachen,
Zu fahren auf der Fluth;
Dann kommen sie Sommer und Winter
Nach meines Mannes Gut.

Mein Kindlein werden sie finden
Gewiegt in süssen Traum,
In einer blanken Wiege
Von deinem Holz, mein Baum.

 Auch dieses Lied hat einen vollkommen slawischen Charakter, und Niemand wird die nächste Verwandtschaft zwischen ihm und den slawischen übersehen können.

Empfohlene Zitierweise:
J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 366. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/377&oldid=- (Version vom 14.2.2021)