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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

auch von dieser Seite kennen zu lernen. Eigenthümlich ist die Erscheinung eines solchen Buches in Russland, wo die Literatur auf eine wahrhaft erschreckende Weise von Allem sich enthält, was im Entferntesten mit Staatspolitik zusammenhängt. Es schien bisher, als fürchtete man durch Besprechung solcher Gegenstände der Regierung zu nahe zu treten. Das vorliegende Buch beweist, dass man es ungescheut wagen dürfe, ja die Berichte der Journale über dasselbe bezeugen, dass man noch weiter gehen dürfe. In dieser Hinsicht ist uns der Schritt Golubkows ein grosser Fortschritt der russischen Literatur überhaupt.

 Исторія Государства Россійскаго: Geschichte des russischen Reiches von N. M. Karamzin. Fünfte Aufl. in drei Bänden. Mit den vollständigen Anmerkungen und dem Porträt des Verfassers. Ptbg. Einerling, 1842 und 1843. (Mit dem „Schlüssel“ von Strojew und anderen Beil., z.B. über das alte und neue Russland). Obgleich nur bis zur Thronbesteigung der Romanows durchgeführt, hat die „Geschichte des russischen Reiches“ doch eine ausserordentliche Wichtigkeit auch für die Gegenwart noch. Das grösste Verdienst Ka-ramzin’s als Historiker besteht nicht darin, als habe er eine tüchtige Geschichte Russlands geschrieben, sondern nur darin, dass er die Möglichkeit einer solchen für die Zukunft geschaffen hat. Auch vor ihm gab es Geschichten Russlands, aber für das russische Volk blieb die Geschichte seines Vaterlandes ein Geheimniss, weil nur den Gelehrten und Schriftstellern zugänglich. Karamzin erst machte dem russischen Volke die Entdeckung, dass es ein Vaterland, dass dieses eine Geschichte habe, dass diese es interessiren müsse, dass die Kenntniss derselben für die Nation nicht blos nützlich, sondern nothwendig sei. Ein solches Werk vollbrachte Karamzin nicht so sehr durch sein historisches, als vielmehr sein belletristisches Talent. Seine belletristische Darstellung der Geschichte Russlands wurde und wird im ganzen Reiche gelesen, aus ihr schöpfte das Volk seine ersten Begriffe über sein Vaterland. Von diesem Augenblicke erst wurde es möglich, die russische Geschichte zu lernen und die Materialien zu ihr gelehrt zu bearbeiten; denn erst von diesem Augenblicke an wurde sie der Gegenstand eines allgemeinen und lebendigen Interesses. Karamzin leistete dies durch seine Sprache; denn er besass die zu seiner Zeit seltene Befähigung, mit seinem Volke die Sprache des Volkes, nicht die Büchersprache zu sprechen. Die früheren historischen Werke, schlecht und unvollständig, wurden von Niemand getadelt, denn es kümmerte sich Niemand um sie; aber schon bei dem ersten Bande Karamzin’s erhoben die Kritiker und Historiker ein grosses Geschrei und klagten über Entstellung der Fakten und falsche Angaben des Historischen. Mit je grösserem Rechte dies geschah, desto nothwendiger ist es, die Umstände nicht zu übersehen, unter welchen Karamzin schrieb. Denn er war nicht blos der Baumeister seines Werkes, sondern auch der Zimmermann und der Maurer, ja selbst der Steinbrecher und Ziegelmacher. Darum darf man sich weniger an das Irrthümliche in den Fakten stossen, als vielmehr die Ansicht aufsuchen, welche Karamzin von der Geschichte überhaupt, vorzüglich aber von der Geschichte seines Volkes halte. Und in dieser Hinsicht stand Karamzin gänzlich unter dem Einflusse seiner Zeit. Er sah in der Geschichtsschreibung nicht das Aufsuchen der wahren Verhältnisse der Vergangenheit, sondern betrachtete sie als eine Art von Dichtung, nur in Prosa geschrieben. Unter dem Einflusse der westlichen Schriftsteller des XVIII. Jahrhunderts, besonders der französischen, stehend, war er fremd jeder kritischen Sichtung, jedem streng scheidenden Scharfblick in die Vergangenheit, und darum übertrug er die Zustände der späteren Jahrhunderte unversehrt in die früheren. Allein Alles dies, ja selbst das Mangelhafte, musste dazu beitragen, dem Buche Karamzin’s Eingang bei seinem Volke und Ausbreitung im ganzen Vaterlande zu verschaffen, welches auch diese neue gedrängte

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 365. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/376&oldid=- (Version vom 14.2.2021)