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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

mehr als das Doppelte; allein die Vollständigkeit in der Herausgabe derselben erreichte noch keine höhere Stufe. Es gibt wenig slawische Stämme, bei denen die Aufsammlung der Volkslieder völlig erschöpft wäre. Bei den südlichen, — wie allgemein bekannt ist, — an diesem geistigen Erbe überaus reichen Slawen liegen noch viele Schätze an verschiedenen Orten verborgen; entweder sind sie nicht gesammelt, wie z. B. in Bulgarien, oder nicht herausgegeben, wie z. B. in Ober- und Unter-Illyrien. Bei den nordöstlichen Slawen, nämlich den Gross- Klein- und Weiss-Russen, die den vorigen in dieser Beziehung an Reichthum keineswegs nachstehen, beginnen eben jetzt Sammlungen zu erscheinen, die mehr in Ordnung herausgegeben sind und einen gewissen Grad von Vollkommenheit erreichen; dessenungeachtet gibt es aber immer noch keine ganz vollständigen und gehörig geordneten Sammlungen. Auch bei den westlichen Stämmen, bei den Polen, Czechen, Mähren und Slowaken, obwohl die Ernte schon vorüber ist, würde dennoch eine Aehrenlehre nicht vergeblich sein. Meine entfernten Freunde, so wie einige Reisende und Liebhaber der slawischen Literatur äusserten mehrere Male den Wunsch, ich möchte meine Uebersicht der slawischen Volkslieder, — welche Uebersicht ich auch jetzt, das Verlangen gewisser Freunde zu befriedigen, den Lesern vorlege — ergänzen und in Ordnung bringen. Vielleicht werden Viele anders über die Arbeit des Verfassers urtheilen, indem sie seine „Uebersicht“, die er selbst nicht für vollständig und unfehlbar ausgibt, für geringfügig halten; besonders Diejenigen, welchen es angenehmer wäre, statt dieser trockenen Aufzählung langer Büchertitel irgend einige scharfsinnige Bemerkungen über den Werth und die Wichtigkeit unserer Volkspoesie im Allgemeinen zu finden. Allein vielleicht ist ein solches langes bibliographisches Verzeichniss wenigstens einigen wenigen eifrigen Verehrern unserer Volkspoesie von Nutzen — Verehrern, welche bei dem jetzigen Zustande unserer Literatur, besonders des Buchhandels und der Journalistik, wissen wollen, zu welcher Zeit etwas herausgegeben wurde, um so mehr, als es überaus mühsam ist, alle diese Notizen zu sammeln. Und wenn übrigens ein Blick auf dieses täglich mehr und mehr aufblühende Feld der Nationalliteratur meinen Landsleuten, obschon auch nur auf kurze Zeit, einiges Vergnügen gewährt, dann wird diese Arbeit nicht vergeblich sein. Um völlig und allseitig den Geist zu verstehen, der sich in der slawischen Volkspoesie kund gibt — in dieser eigenthümlichen Erscheinung, die in der neuern europäischen Literatur ihres Gleichen nicht findet — ist es vorerst, nach unserer Ansicht, nöthig, sich sehr weitläuftige Materialien zu verschaffen und sich Zwecken zu widmen, die weit wichtiger sind, als jene, an welche uns die unüberwindliche Gewalt der gewöhnlichen Ordnung der Dinge band. Auch ist es nöthig, durch gar manche Sammlung, durch gar manche Vorarbeit, die uns jetzt noch fehlt, und die wir ohne Zweifel auch sobald nicht haben werden, die Bahn zu brechen.[1] Ich halte es für meine Schuldigkeit, hier zu erklären, dass ich nur eben mit gehöriger Aufmerksamkeit einige in dieser Uebersicht mit aufgeführte Sammlungen durchgelesen; den grössten Theil derselben hatte ich jedoch nicht bei der Hand, und die Kenntniss solcher verdanke ich Privatpersonen.

 Bis dahin, wo unsere Kräfte im Stande sein werden, etwas Vollkommneres zu leisten, wird dieses Verzeichniss wenigstens für Diejenigen von Nutzen sein, die eine vollständige Kenntniss der Sammlungen slawischer Volkslieder wünschen.


  1. Ueberdies ist bekannt, dass viele Forscher den Charakter und Geist der slawischen Nationallieder weitläuftig behandelt haben, theils in den Vorreden zu ihren Sammlungen, wie z. B. Wacław z Oleska (Piesni Polskie i Rus. Lwów 1833. S. III—LIV), theils in Journalen, z. B. K. Brodzinski, theils in eigenen Abhandlungen, z. B. J. Wenelin. (Ueber den Charakter der Volkslieder der jenseits der Donau wohnenden Slawen, Moskau 1835); aber umfänglicher als Alle schrieb darüber G. Bodjanski. (Ueber die Volkspoesie der slawischen Stämme. Moskaw 1837.
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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 321. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/332&oldid=- (Version vom 14.9.2022)