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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

Geschlechter neue enge Familienbande zu gründen; sie sind aber auch ein ächtes Mädchenfest, denn die Mädchen führen bei denselben den Reigen an, und für sie allein scheint es entstanden zu sein.

 Ueber den Ursprung dieser Festlichkeit lässt sich in unsern Tagen nichts Genaues mehr ausforschen. Ueberhaupt liegt die alte russische Ethnographie sehr im Argen. Die mannigfaltigen Sitten und Gewohnheiten des alten russischen Lebens, wo sind sie hin! Keine Feder hat sie beschrieben, kein Pergament der Nachwelt aufbewahrt! Das russische Volksleben ist so reich an ächter National-Eigenthümlichkeit, wie kein anderes mehr; aber Russland ist eben so arm an Beschreibungen und Schilderungen derselben, dass es in der That Schande ist für eine so grosse Nation. Nur im Munde des Volkes lebt das Andenken an jene alten Zeiten, aber es ist verhüllt in das Gewand der Mythe, in den Nebel des Mährchens, in die Morgenröthe der Sage und des Liedes; und wer könnte sich vermessen, aus den mannigfaltigen Schöpfungen des dichtenden National-Geistes mit entschiedener Gewissheit bestimmte, genaue Resultate zu erschliessen? — Und diese Dichtungen der Nation selbst, wo sind sie gesammelt? Wie wenige kennt sogar die russische Literatur! wie so gar keine die deutsche oder eine andere? Fing man ja doch erst seit einigen Jahren an, den Sagen und Liedern dieses Volkes mit herablassender Güte einige gnädige Aufmerksamkeit zu schenken; obgleich diese schuldlose Naivität und Einfachheit, und dieser Adel und diese Würde, welche die Seele derselben sind, ein jedes unverdorbene Gemüth im ersten Augenblick entzücken müssen!

 Die Russen feierten die Weihnachten immer um dieselbe Jahreszeit; allein nach ihrer Zeitrechnung fand diess in gar verschiedenen Monaten statt. In den alten Zeiten hielt man dieses Fest in den letzten Tagen des zehnten Monats; dieses geschah, so lange man das Jahr mit dem Monate März anfing. Später kamen andere Menschen und andere Sitten, das Jahr fing mit dem September an und so kamen die Weihnachten in das Ende des vierten Monats. Aber später erlitt auch diese Veränderung eine Umwandlung. Peter der Grosse kam und von ihm ward alles Alte mit Füssen getreten; er fand es für gut, das neue Jahr mit dem Januar zu beginnen und die Weihnachten wurden wieder in das Ende des zwölften Monates verschoben. So einfach und natürlich auch diese Veränderungen an sich sind, so hat sie doch kein russischer Schriftsteller uns gemeldet; nein, die Nation hat uns diese Nachrichten selbst aufbewahrt und zwar in ihren wundervollen Traditionen, in ihren Sagen. Wie gross und wie mannigfaltig nun diese auch sind, so sind doch die russischen Weihnachtsfeiertage selbst viel grossartiger und mannigfaltiger. Beinahe mährchenhaft klingen die Sagen von den Weihnachtsfesten in Moskwa, Tula, Kaluga und Rjazan, wie sie in alten Tagen gefeiert wurden.

 Gegen das Ende des November, wenn bei uns der Advent eintritt, als die guten Hausväter schon anfingen nachzusinnen, was für Fleisch, was für Wurst und dergleichen sie wohl einkaufen sollten: da ward auch in dem Herzen der Hausmutter der Gedanke rege, den sie schon im vorigen Jahre ausgesprochen: „Bei wem wollen wir die Weihnachten feiern? Wen sollen wir auf die langen Abende einladen? Was für Mädchen können wir als willkommene Gäste unsern Töchtern zuführen?“ Aber solch ein Gedanke ward nicht etwa zu Hause oder im eigenen Kopfe durchdacht, nein, in Russland war es schon seit Alters her Brauch, während der Philipowki (eben jene Zeit) seine Verwandten und Bekannten zu besuchen. Da nahmen die jungen Frauen gar bald nach dem Frühstück ihre Arbeit in die Hand und gingen aus, um den übrigen Tag bei ihren Freundinnen zuzubringen; und war der Vespersegen gesprochen, so kamen ihnen auch die bejahrteren nach, und nun fingen die guten Mütter und die alten Mütterchen an zu plaudern und guten Rathes zu pflegen. Einen Hauptgegenstand der Verhandlungen bildeten neben den Stadt-Neuigkeiten natürlich die nahe bevorstehenden Weihnachten. Bei solchen Familien-Rathssitzungen ging es in der Regel sehr scharf her. Am lautesten liessen die alten Mütterchen ihre Stimme erschallen; sie wollten, als die Erfahrneren, immer mit ihrer Meinung durchdringen, während die jüngern Frauen

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/33&oldid=- (Version vom 15.9.2022)