Seite:Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft 1 (1843).pdf/312

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

unglücklich sein, so kräftigten sie den polnischen Nationalgeist, wenn sie nur nicht flach und mittelmässig waren.

 Wenn wir unsere ganze Lage und alle ihre Nebenumstände überblicken, so müssen wir gestehen, dass der gegenwärtige Zeitraum nicht ganz unglücklich ist für unsere Entwicklung und demzufolge für die Entfaltung unserer Literatur. Man kann auch nicht sagen, dass ein einzelner Ort besonders privilegirt zu sein scheine, diese zu leiten. Es hat vielmehr das Ansehen, dass man überall für das grosse Ziel arbeiten könne, wenn man es nur verstehe. Es bedarf nur einer einzigen gemeinsamen Idee, welche einfach sei, dass Jeder, dessen Begeisterung erwache, auch dieselbe errathe. Es bedarf nur der tiefen Ueberzeugung, dass man nur mit vereinten Kräften Grosses vermöge, dass die Menschen, wenn sie einander an den Händen nehmen und die Erdkugel umfassen, sie in einen andern Raum zu schleudern vermöchten. Die Schriftsteller und die Gelehrten überhaupt bedürfen keiner geheimen Verständigungen, keiner Berathungen noch Bündnisse; sie mögen nur die örtlichen Gesetze berücksichtigen und vor den Augen der ganzen Welt handeln. Sie mögen nicht vergessen, dass die Erde gross ist, und die Arbeit des Einen am Dniepr von einem Zweiten an der Warthe oder gar an der Seine und Themse vollendet werden könne.

 Die Wahrheit (prawda: Wahrheit und Recht zugleich) allein ist der ewige Gegenstand der Literatur. Sie selbst aber ist wieder so sehr verzweigt, so vielseitig, dass es keine Kraft in der Welt gibt, welche sie gänzlich zu vernichten vermöchte, ja dass es keinen Willen gibt, der ihre gänzliche Vernichtung wünschte. Wo immer die Wahrheit und das Recht von der einen Seite gedrosselt wird, da lässt man ihr jedesmal von der andern Seite freien Athem.

 In seinen gegenwärtigen Verhältnissen hat Polen oder kann wenigstens Schriftsteller haben in Posen, Breslau, Kraukau, Lemberg, Wien, Warschau, Kiow, Charkow, Wilno, Dorpat, Petersburg, Berlin, Brüssel, London und Paris[1]. In allen diesen Städten kann man leicht polnisch schreiben und drucken; ja es finden sich daselbst so viel Polen, dass sie oft ein, zwei, ja selbst drei periodische Schriften aufrecht zu halten vermögen. Und sie halten sie in der That aufrecht, nicht nach Massgabe ihrer Erträgnisse, sondern nach Massgabe ihrer Aufopferung. Die reichen Herren in Wien wollen erst dann sich zu etwas entschliessen, wenn im Westen in Städtchen, deren Namen uns kaum bekannt sind, die Leute bei Wasser und Brod je zwei Zeitschriften herausgegeben und sie aufrecht erhalten haben. Kein Wunder, denn jenen liegen fremde Titel, diesen aber das Erbe ihrer Väter am Herzen. Oben erwähnten wir, dass Polen bei seiner literarischen Entwicklung immer fremde Religionen, fremde Literaturen berücksichtigte; dieselben Rücksichten bestehen auch heut zu Tage noch, aber der Gewandte wird sie leicht zu umgehen wissen. So mögen die Polen arbeiten, wo immer sie sind, und mögen arbeiten mit Rücksicht auf ihre Heimath; es möge Jeder sich für ein kleines Rad in der Einen grossen Maschine ansehen, oder wenn man ein lebendiges Bild will, er möge sich für einen kleinen Nerv in dem Organismus eines Körpers ansehen und erkennen, dass aus diesen räumlich zerstreuten Theilen eine einzige grosse Maschine oder ein einziger Organismus uns sich bildet, allseitig und fern von schiefer Parteilichkeit.

 Wir müssen uns reiflich umsehen, was einem Jeden wohl anstelle, was mit den Lokalverhältnissen übereinstimme. Darauf beruht allein die Hauswirthschaft, der Handel und Alles, was ins praktische Leben einschlägt; darauf beruht demzufolge die Literatur, beruhen alle Lebensinteressen der menschlichen Gesellschaft und der Nationen. Es gibt Länder, in denen eine freiere Bearbeitung der polnischen Geschichte nur bis zu den Jagellonen reichen darf, in denen man die litthauische


  1. Auch in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 301. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/312&oldid=- (Version vom 20.2.2020)