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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

nur die alten Literaturen, von denen die griechische, nur vom Hörensagen bekannt, ganz verkehrt aufgefasst wurde, die lateinische aber mehr zugänglich und beliebt für das Ideal jeder schönen Literatur galt. Unter den neuen Literaturen erfreute sich eines allgemeinen Bekanntseins nur noch die französische und italienische, besonders erstere, denn sie stand am meisten unter dem Einflusse der lateinischen, wenigstens in der äusseren Form. Eine deutsche belletristische Literatur gab es damals noch gar nicht; die spanische und englische waren über die Grenzen ihrer Heimath hinaus nicht bekannt.

 Der Einfluss der beiden klassischen Literaturen auf die französische und mittelst ihrer auf alle des damaligen Europa bestand in der sklavischen Nachahmung ihrer äusseren Form und in der passenden und unpassenden Anwendung ihrer heidnisch-mythologischen Begriffe. Ein lyrisches Gedicht durfte nicht ohne „Lyra“ und ohne „Besingen“ sein. Jedes Drama musste nach griechischem oder lateinischem Muster zugeschnitten werden; jede Epopöe musste mit „Singe, o Muse“ oder „Ich singe“ anfangen; Dantes göttliche Komödie galt für kein Epos. Dadurch ward die Poesie rhetorisch; ihre Grundlage war: Entfernung vom Leben, von der Wirklichkeit; ihr Charakter: Lüge und Gemeinplätze. — Eine solche Poesie wurde nach Russland hinübergepflanzt.

 Lomonosow war der erste Gründer der russischen Poesie und der erste Dichter Russlands. Für uns ist jetzt eine solche Dichtung unbegreiflich; sie belebt nicht unsere Einbildungskraft, sie regt nicht unser Herz an, sondern bewirkt nur Langeweile und Gähnen. Wenn man aber Lomonosow mit Sumarokow und Cheraskow vergleicht, zwei Dichtern, welche nach ihm erst auftreten, so kann man nicht anders, als Lomonosow ein bedeutendes Talent zuerkennen, welches auch in den erlogenen Formen der rhetorischen Poesie jener Zeit hie und da hindurchschlägt. Nur Derżawin allein war unvergleichlich mehr Dichter als Lomonosow; bis auf Derżawin’s Zeiten hatte Lomonosow keinen Nebenbuhler, und wenn auch Sumarokow und Cheraskow von ihren Zeitgenossen nicht unter ihn gestellt wurden, so standen sie doch unter ihm „so wie zu jenem Stern am Himmel fern.“ Im Vergleich mit ihnen ist seine Sprache rein und edel, sein Styl glatt und kräftig, sein Vers voll Glanz und Schwung. Wenn nun nicht Jeder befähigt war, so zu schreiben, wie Lomonosow, so heisst das soviel, als dass hiezu Talent erforderlich war. Die Poesie eines Corneille und Racine ist für uns eine lügnerische (nicht wahre, der Wirklichkeit nicht entsprechende), eine rhetorische Poesie, und wir schlafen bei ihr so süss, wie von einem Gedichte Sumarokows. Aber um so zu schreiben, wie Corneille und Racine zu ihrer Zeit schrieben, dazu gehört auch für jetzt ein grosses Talent; indess zu schreiben, wie Sumarokow schrieb, dazu bedurfte man gar kein Talent auch zu seiner Zeit, sondern nur Lust zu schreiben. In den Oden Lomonosow’s, „an Job“, in seinen Morgen- und Abendgedanken über die Grösse Gottes, sieht man neben der bewundernswürdigen Kunst des Versbaues auch noch das warme Leben, das beseelte Gefühl, welches man in keinem einzigen Gedichte Sumarokow’s oder Cheraskow’s wahrnimmt. Die Poesie Lomonosow’s ist vor Allem panegyrisch und feierlich. Sumarokow schrieb neben Tragödien und Oden auch noch wenigstens Komödien, Eklogen und Satyren; Lomonosow schrieb nur Oden und neben ihnen noch zwei Tragödien und ein unvollendetes Heldengedicht „die Petriade.“ So war der Geist jener Zeit; so begriff man damals in Europa das Wesen der Dichtung, und der Unterschied zwischen der Petriade Lomonosow’s und der Henriade Voltaire’s ist wahrhaftig nicht gross. Lomonosow versetzt den Pallast Neptuns auf den Boden des weissen Meeres; der Dichter dachte nicht daran, dass er dem Bewohner des Mittelmeeres und des griechischen Archipels eine etwas gar zu kalte Wohnung gab. Peter der Grosse und Neptun, der Meeresgott der alten Griechen, welch’ eine Zusammenstellung! Man begreift, warum Lomonosow sein wildes, hochtrabendes Poem nicht vollendete; er hatte von der Natur so viel gesunden Sinn und Verstand,

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/277&oldid=- (Version vom 21.11.2019)