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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

Nicht viel gelten uns die Wunder über Meer gebracht,
Nicht viel gilt dein heller Reichthum uns von Astrachan.
Für uns ist nur von hohem Werth dein freches Haupt.
Und sie schnitten dem Stadthalter ab das freche Haupt;
Und es spotteten die Wackern ihres Feindes drauf:
Strenge warest du Stadthalter, strenge stets mit uns.
Hast geschlagen und verbannet und verdorben uns,
Hast erschossen auf dem Thore unser Weib und Kind.

 Die Poesie in allen diesen Gesängen ist schlicht und einfach, wie im echten Volksliede; die Bilder und Gleichnisse aus der zunächst gelegenen Natur genommen und darum desto wahrer und treffender; der Reim ist nicht streng durchgeführt, besonders in den älteren. Der Verf. bemerkt über denselben S. VI.: „Die ältesten russischen Lieder sind reimlos, klingen aber desto öfter auf denselben Selbstlauter an, und kommen in dieser Art den spanischen Liedern nahe. Reimspuren finden sich beinahe nur wie zufällig in den spätem Liedern, bis erst in der neuesten Zeit die Russen von den Polen reimen gelernt, welcher Reim dann auch in den neuesten Liedern durchgängig die Schlussworte jeder Zeile zieret. Die kleinrussischen (ukrainischen oder Kosaken-) Lieder sind eben so wie die polnischen, wenigstens ältere und neuere, gereimt, und haben wohl zu Zeiten Anklänge der Selbstlauter oder völlig reimlose Stellen, wie wir dieses auch in unsern deutschen Volksliedern finden. Nur die allerältesten entbehren ebenfalls des Reimes, so dass man auf die Vermuthung kommen könnte, die slawischen Völker hätten sich diesen Wortzusammenklang im Umgange der germanischen Stämme angeeignet.“ Die letzte Behauptung ist geradezu lächerlich; wir unserer Seits sind wenigstens nicht im Stande, zu begreifen, auf welche Weise der echte Moskowite (wir meinen den im Gouvernement Moskwa) oder gar der weiter nach Osten wohnende russische Bauer, und dieser ist der Verfasser des grössten Theiles der Volkslieder, den Reim „im Umgange der germanischen Stämme“ sich angeeignet haben könnte. Dem Deutschen mochte es wohl ein Bedürfniss sein, den Reim aus der Fremde zu holen; der Geist der slawischen Sprache aber, und vor allem der russischen, in welcher ganze Reihen von Wörtern einerlei Ausgänge haben, in welcher man einen männlichen Reim in Hunderten von Wörtern findet und in welcher ein dreisylbiger Reim (in Amphibrachien und Anapästen) keine Seltenheit ist, leitet das für Wohlklang und Harmonie empfängliche Ohr unwillkührlich zu diesem Vorzuge in der poetischen Form, den sich andere Sprachen nur allmählig und mit grosser Mühe erringen konnten. Gerade der Reim mit allen seinen Verzweigungen, wie der Assonanz, der Alliteration und dem Worteinklange ist es ja, welcher neben den andern Eigenthümlichkeiten es so schwer, ja fast unmöglich macht, so manches echt slawische Gedicht in einer andern Sprache ganz und vollkommen, in Materie und Form, wieder zu geben. — Die Melodien bilden mit dem Volksliede ein unzertrennliches Ganze; ohne diese hat dasselbe die volle Hälfte seiner Schönheit verloren. Desto dankbarer müssen wir daher dem Verf. sein, dass er seine Uebersetzungen so „zusammengepasst“ hat, dass sie „gleich nach der Urweise gesungen zu werden“ geschickt sind. Nur hätten wir dann freilich gewünscht, dass der Verf. diese Urweisen uns mitgetheilt hätte, so weit dies nämlich nach den ihm vorliegenden Materialien möglich war. Ueber den Charakter dieser Melodien spricht sich der Verf. S. VII so aus: „Was die Weisen dieser Lieder anbelangt, so spricht sich in dem russischen das Gefühl einer tiefen Schwermuth, einer ergreifenden Klage aus, die nur im einzelnen durch den strengsten Takt in einen eben so rauschhaften als berauschenden Taumel übergeht. Dabei entfernen sich die Weisen in ihren Uebergängen weit von den uns befreundeten Arten, und verlieren sich oft in wilden, schneidenden und doch wieder geistreichen Ausweichungen.“

 „Die kosakischen Weisen lieben den Wechsel der verwandten harten und weichen Tonarten, welche sich seltener der tiefen russischen Schwermuth, dem

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 207. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/218&oldid=- (Version vom 10.12.2019)