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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

diesem finden sich die meisten Weisen, die meisten Worte vor, welche letztere oft nur zweizeilig, selten über vierzeilig vorkommen, und von den Landleuten in ihrer Tanzbegeisterung Dutzendweise an einem Abend gedichtet, gesungen und wieder vergessen werden. Sie sind nicht selten Muster des treffendsten Volkswitzes, der oft ganze Abende sie aufnimmt, abspinnt und fortspielt, und bergen auch noch da, wo sie hingeworfen und unzusammenhängend erscheinen, eine tiefe Naturanschauung.

 Neben der übergrossen Anzahl der slawischen Volkslieder ist aber auch die ausserordentlich poetische Wahrheit bemerkenswerth, welche in denselben herrscht; wie schön ist in dieser Hinsicht sogleich das erste Lied, mit welchem der Verf. seine Sammlung eröffnet.

Die Nachtigallstimme.

Ach so hörest Du,
Mein Herz inn’ger Freund?
So verstehest Du,
Leben, Seele mein?
In dem Garten dort
Singt die Nachtigall;
Ja sie singet, singt,
Pfeifet dort gar fein;
Liebessprüchelein
Sie süssplaudernd sprach —
Sie gab Stimme mild
Durch den dunkeln Wald;
Durch den dunkelnden
Feuchten Fichtenhain,
Auf dem Söllerlein[1]
Jener holden Maid.

Dabei sind sie der treueste Abdruck des slawischen Volksgeistes. Wie charakteristisch ist in dieser Hinsicht folgendes Lied:


Die Thränen.

O ihr Berge, Berge worobiowskischen!
Sie erzeugten Steine, brennbar gar und weiss[2].
Unter diesen Steinen floss ein munt’rer Bach;
Dicht an diesem Bache stand ein Linsenbusch;
Auf dem Busche ruht ein Schilleradler aus,
Hielt in seinen Krallen eine Krähe schwarz;
Quälte sie mit nichten, fragte sie nur aus:
„Sage, sage, junge schwarze Krähe, Du!
„Wohin Du geflogen, wo geschwärmt Du hast?“
Ich flog in den Steppen dort um Sarotow;
Sah dort in den Steppen Wunder wunderbar:
Lieget dort auf dem Felde ein weisser Leib.
Dorten liegt der Leichnam eines Wackeren.
Zu dem Leichnam flogen kleiner Vögel drei;


  1. Eigentlich Terem, ein eigner Aufsatz auf dem Dache des Hauses, einem kleinen Hause ähnlich, in welchem die alten Russen ihre Weiber bewahrten.
  2. Wahrscheinlich auf Kalkgruben hindeutend. Die Worobiowberge (Sperlingsberge) liegen dicht vor den Thoren Moskwa’s, mögen sich aber nicht viel über hundert Fuss über den Moskwaspiegel erheben.
Empfohlene Zitierweise:
J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/216&oldid=- (Version vom 8.12.2019)