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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

für sehr wünschenswerth halten, dass wir aber mit der vorliegenden keineswegs zufrieden sein können. Sie ist in einzelnen Partien zu weitschweifig, so z. B. wenn der Verf. seine ästhetischen Ansichten auseinandersetzt, welche wir ja aus seiner Auffassungsweise selbst hätten kennen lernen, insoweit uns dieselbe beim Lesen seines Buches interessirt. Nicht weniger hindern die weitläufigen biographischen Notizen, welche hier beigebracht werden und welche wir später sicherlich wiederzufinden hoffen, die Uebersichtlichkeit dieser Uebersicht. Vor Allem aber vermissen wir in dieser Einleitung eine höhere Auffassung der russischen Literatur; es fehlt der verbindende Geist, welcher in diesen einzelnen Erscheinungen den inneren Zusammenhang aufzufinden weiss; ja es scheint fast, als habe der Verf. diese Einheit in der geistigen Entwickelung der russischen Nation völlig übersehn. Und doch ist sie gerade das wichtigste Interesse zu erwecken im Stande, welches einzig und allein nur die Bürgschaft zu geben vermag, dass auch das östliche Slawenthum einer immer vollkommnern Entwickelung entgegengehen muss.

 Die Gedichte, deren Uebersetzungen in dieser Abtheilung mitgetheilt werden, beginnen mit dem „Liede vom Heerzuge Igor’s“; jenem ältesten russischen Denkmale, welches seit seinem ersten Auffinden die tüchtigsten Köpfe unter den slawischen und auch nicht-slawischen Alterthumsforschern beschäftigt hat. Der Verf. hat demselben mehr Raum eingeräumt, als ihm verhältnissmässig zukommt; die Wichtigkeit des Gedichtes mochte ihm dazu verleiten; auch scheint ihm bei demselben ein philologischer Geist ergriffen zu haben, den wir später nirgends wieder finden. Hierauf folgen (S. 227) Volkslieder, welche mit einer ästhetisch-historischen Einleitung versehen sind. Hier erklärt der Verf. seine Ansicht über Volkspoesie, welche theils Naturpoesie, theils Poesie der Natur sei; letztere sei bei den Russen die überwiegende und, weil die Periode der Rückkehr der Kunstpoesie zur Naturpoesie noch im Beginnen sei, im Volke die herrschende. Unter den Eigenthümlichkeiten der russischen Volkslieder giebt der Verf. als besonders hervorstechend an: die Anwendung der (metaphorischen) „Allegorie“ in einer uneigentlichen Bedeutung des Wortes, die Anthropomorphisation der Natur, der Gebrauch von stereotypen Epitheten und immer und immer wiederkehrenden Redeweisen, endlich Versifikationen, in welchen man sich erfolglos nach einem kunstgerechten Versbau umsehe. Den Reim bezeichnet er als „zufällig und aus sprachlichem Zusammenklange entstanden“; übrigens zeugten die Volkslieder am deutlichsten dafür, „dass unter allen todten und lebenden Sprachen an Ausdrücken der Liebe keine so reich ist, wie die russische.“ Nach einer kurzen Uebersicht der Volksliedersammlungen polemesirt der Verf. gegen Herrn von Götze’s Uebersetzungen in den „Stimmen des russischen Volkes in Liedern.“ Hr. W. übersetzt 18 vermischte, 4 Hochzeits-, 3 Weihnachts-, 5 Armesünder- und 2 Wiegenlieder. — Eine Umarbeitung der Volkslieder bilden die von Kirscha Danilow gesammelten altrussischen Dichtungen. Der Verfasser theilt 5 solche Lieder mit. Nach den Volksliedern folgen 4 Gedichte von Lomonassow, mit einer einleitenden biographischen Schilderung; auf diese 6 Gedichte von Derżawin, darunter eine neue Uebersetzung der „Ode an Gott.“ Die biographischen Notizen, welche den Gedichten vorangehen, sind gedrängt und zweckmässig. Im Ganzen müssen wir mit der Arbeit Hrn. W.s sehr zufrieden sein. Die Uebersetzungen sind und bleiben das Beste im Buche, und das mit Recht, da sie ja doch die eigentliche Hauptsache desselben bilden. Die literar-historischen und allgemein ästhetischen Andeutungen hätten vielmehr zusammengedrängt werden können; allein auch in dieser Gestalt sind sie nützlich und werden die billigen Wünsche Deutschlands befriedigen. Wir wünschen dem Verf. eine rechte Ausdauer bei seiner weitläufigen, und nicht selten mühevollen Unternehmung.

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/214&oldid=- (Version vom 6.12.2019)