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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

Zeit her in eine Mundartengruppe getheilt“, jede hat ihren selbstständigen und abgeschlossenen Charakter. „Man kann sagen, dass die ganze slawische Sprache sich jetzt nicht in Mundarten theilt, sondern in Sprachen. Sie ist wahrscheinlich die einzige Sprache, welche mehrere in sich fasst.“ (S. 141.) Der altslawische Dialekt, unrichtigerweise erzslawisch benannt, das heisst die kirchliche Mundart, konnte nicht die Zeit der ersten Uebersetzung der heiligen Schrift und einiger liturgischen Bücher überleben, weil es dem fernern Fortschritte des Christenthums nicht folgte, weil er unfähig, die werdenden Bedürfnisse inmitten der slawischen Völker auszudrücken, durchaus nur von der Vergangenheit sprechen musste, und aus der lebenden Gesellschaft der Slawen verstossen wurde.

 Unter den drei grossen Sprachen, die heute die slawische umfassen, hat die russische nur die byzantinische Literatur beerbt, und wäre schon längst verdorrt, hätte sie sich nicht im spätern Verlaufe an die neuere Civilisation festgeklammert, hätte sie nicht zuerst das Polnische nachgeahmt und dann aus dem Lateinischen einen neuen Quell geschöpft.

 Die czechische Literatur hat sich durch den Einfluss der deutschen ersticken lassen; sie verstand es nicht, wie schon gesagt, sich das fremde Element anzueignen, und sie entfremdete sich selbst ihrem Volksthum.

 Die polnische Literatur, wenn gleich weniger urthümlich als andere, wie z. B. die serbische, erwuchs dennoch am mächtigsten und weitesten. Da sie der lateinischen Ueberschwemmung nicht erlag, dann sich die französische Literatur aneignete, öfters die deutsche nachahmte, verlor sie nicht im mindesten ihren wesentlichen Charakter. — (14) Obgleich keine literarischen Denkmäler in eigener Sprache hinterlassend, so doch wichtig durch die Menge der schriftlichen Nachrichten, welche theils von ihnen selbst, mehr noch von den angrenzenden Deutschen in lateinischer Sprache uns hinterblieben, sind die von Schafarik so benannten Elbeslawen, zwischen der Oder, dem Riesen- und sächsischen Gebirge, der Saale, Elbe und der Ostsee, deren Vernichtung der Verf. einen längeren Vortrag widmete. Nach dieser Zeit, im XI. Jahrhunderte, findet sich die Sage vom Heereszuge Igor’s, ein Gedicht, welches den slawischen Alterthumsforschern bereits zu mannigfaltiger Arbeit gedient hat. M. giebt den vollen Inhalt des Gedichtes und schliesst nun allgemeine Betrachtungen der slawischen Poesie an. Die Vollkommenheit der äusseren Form, der Plastik, sei ihr höchster Vorzug; ihr fehle das Wunderbare, an dessen Stelle stehe im Volksglauben nur das Geisterhafte; die Vampyre, eine rein slawische Schöpfung, seien nur zu den Griechen, Römern und Germanen übergegangen. Ein volles Verständniss der altslawischen Dichtung sei erst durch Kenntniss ihrer Geschichte möglich. — Einen besondern Zweig der slawischen Volkspoesie bildet die serbische. Der Verf. leitet seine Darstellung mit einer Geschichte der Donauslawen ein, wie sie die byzantinischen und andern Chroniken schildern. „Das Volk aber, sagt er S. 181, und die Dichter begreifen anders die Vergangenheit und die Zukunft ihres Landes.“ Die Geschichte fiel hier ganz dem schaffenden Geiste der Poesie anheim; die historisch-heroische Dichtung bildete den wichtigsten Theil der serbischen Poesie; ihr folgte die romantische. Als Muster von jener führt der Verf. aus dem Buche der Madame Talvi die Vermählung des Königs Lasar an, dann giebt er das Gedicht: „Die Heiligen im Zorn“, und andere an. Die serbische Dichtung hat eine reiche Fruchtbarkeit und ähnelt durch ihren cyklischen Charakter sehr den Homeriden. Das Mythologische, welches dem Slawismus mangelt, vertritt hier eine eigenthümliche, durch das Verschmelzen der geistlichen mit den heidnischen Begriffen entstandene religiöse Lebensansicht. Selbst die Sänger, welche solche Lieder vortragen, gleichen ungemein dem griechischen Rhapsoden. In der romantischen Dichtung ist Marko, der Königssohn, der Glanzpunkt aller Grösse und Herrlichkeit, ähnlich Artur dem Bredonen-König; nach dieser Periode folgte eine dritte, in welcher das Familienleben unter den häuslichen Beziehungen herrschend erscheint. Diese beiden Perioden traten erst nach dem Falle Serbiens ein. Den Grund dieses, so

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/212&oldid=- (Version vom 4.12.2019)