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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

stets die besten Kräfte des Bürgerstandes absorbirt, gegentheilig aber auch der russische Adel niemals so welk und hinfällig und ausser seiner Zeit stehend, wie in den übrigen europäischen Ländern, werden kann. Der russische Adel ist allerdings noch kein ächt russischer; seine Bildung ist noch immer französisch und wird es bei dem jetzigen Zustande der russischen Literatur und volksthümlichen Entwickelung auch noch lange Zeit bleiben, obwohl der energische, alles Nationale fördernde Uwarow auch den Adel möglichst zu nationalisiren sucht. So lange die russische Literatur nicht eine allgemeine europäische Bildung zu gewähren vermag, so lange wird das Ausländerthum trotz aller Grenzlinien noch immer eine grosse Rolle in Russland spielen. Es ist daher äusserst politisch von Uwavow, dass er die innere Entwickelung der russischen Literatur mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu heben bestrebt ist. Dies ist sein grösstes Verdienst; hierin hat er sich einen unvergänglichen Namen erworben. Die Politik Russlands zu den nicht russischen Nationalitäten seines Reiches ist seit Vernichtung der Mongolen eine wesentlich negative. Eine Macht, Eine Religion, Eine Nation ist der Wahlspruch jedes patriotischen Russen. Dass dieser Spruch die Richtung der inneren Politik Russlands bestimmt, bedarf keines Beweises. Gerade diese Richtung der russischen Politik ist es, welche einen politischen Anschluss der übrigen slawischen Nationen an Russland rein unmöglich macht.

 Das Verhältniss Russlands zu Polen (S. 155) wird nur wenig berührt, die letzte polnische Revolution für einen politisch dummen Streich erklärt, und nebenbei die polnische Emigration in Paris unpolitisch, schädlich und zwecklos genannt. Die Darstellung der russischen socialen Verhältnisse hat interessante Einzelnheiten, zeigt jedoch, dass der Verfasser in dieser Gegend des Slawenthums weniger bewandert ist als im Südwesten. Die jüngste Politik Russlands gegen Polen, denn allerdings scheint seit dem Jahre 1841 eine solche vorgegangen zu sein, so wie die Bedeutung der Kirchenwirren sind mit keinem Worte erwähnt.

 Auch in der Türkei dürfte der Kampf der christlichen Völkerelemente mit dem immer schneller seinem Untergange entgegeneilenden Turkismus sehr bald ein allgemeiner werden. Drei Nationalitäten sind es, welche dermaleinst auf den Trümmern des osmanischen Reichs in Europa ihre Herrschaft aufzuschlagen gedenken: die Neuhellenen, die Slawen (in zwei Hauptstämme: die halbfreien Serbier mit den noch gefesselten Bosniern und die Bulgaren zerfallend), und endlich die Romanen (Walachen). Es lässt sich nach deutlichen Symptomen nicht verkennen, dass diese drei Völkerstämme lebhaft zu erwachen beginnen: das Hellenenthum durch die griechische Propaganda von Athen, die Bulgaren von ihren Stammesbrüdern aus Odessa, die Romanen durch die sich bildende patriotische Parthei in Bukarest und Jassy aufgereizt. Die Hellenen träumen von einem verjüngten byzantinischen Reiche, die Slawen gedenken an ihre grossen Care Boris und Duschan, welche beide einst Byzanz bedrohten und ein slawisches Kaiserthum auf der thrakischen Halbinsel zu errichten beabsichtigten; die Romanen endlich reclamiren, wie es scheint der Geschichte wenig kundig, den grossen Decebalus, und hoffen, dass aus ihrem Stamme ihm ein Nachfolger erstehen werde, der, die acht Millionen Walachen Ungarns, Siebenbürgens, Bessarabiens, der Moldau und Walachei vereinigend, ein neuromanisches Reich begründen werde[1]. Es gehört kein prophetisches Auge dazu, um in diesen Gegenden die Vorbereitungen zu den heftigsten Nationalkämpfen, die in gar nicht langer Zeit ausbrechen dürften, zu erkennen. Zwei Nationalitäten zumal werden um die Hegemonie kämpfen: Hellenen und Slawen. Referent kannte studirende Griechen und Bulgaren in gleichem Hasse gegen einander entbrannt, wie Christ gegen Moslim. Von diesen überaus wichtigen, bei der gegenwärtigen Lage der Dinge nothwendig eintretenden inneren


  1. Referent gedenkt in einem der nächsten Hefte einen Artikel über die nationalen Bestrebungen der Walachen, welche ohne Zweifel die grösste Aufmerksamkeit verdienen, mitzutheilen.
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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/198&oldid=- (Version vom 19.11.2019)