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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

 Die liberale Partei hat nicht nur eine zu grosse Masse von Vorschlägen in die Welt gesetzt, sie hat sie auch nicht nach ihrer relativen Wichtigkeit und Dringlichkeit gesondert, nicht unterschieden, was vor der Hand wenigstens noch unausführbar und was man schon jetzt hoffen durfte, durchzusetzen; sie hat es nicht vermieden, die tollkühnsten Projecte, als handelte sich's um eine Kleinigkeit, auf’s Tapet zu bringen, und sich dadurch bei den Einen eben so verhasst, als bei den Andern lächerlich gemacht, bei beiden aber sich in Misskredit gesetzt. Wir nennen hier nur den Vorschlag, die Güter des Klerus einzuziehn und das absolute Veto des Königs aufzuheben. In der That ist eine so hübsche Zahl ähnlicher, unmöglicher D...ten in Kurs gesetzt worden, dass man von einer gewissen Seite zur Entschuldigung bereits anführte, die Regierung selbst veranlasse diese Ueberstiegenheit, um sie für ihre Zwecke auszubeuten, - eine Hypothese, wo möglich noch lächerlicher, als die Erscheinungen, die sie erklären und entschuldigen soll; auch wird ihr gewiss kein Verständiger irgend einen Glauben schenken.

 Die exclusive magyarische Stammesnationalität, die sie auf den Thron der legitimen, seit acht Jahrhunderten herrschenden politischen Nationalität setzen will, ist das Schoosskind dieser Partei, von ihr ausgetragen, unter gewaltigem Kreissen zur Welt gebracht, aufgefüttert und gehätschelt, ihr enfant gâté. Der ungezogene Junge dürfte aber bald der zärtlichen Mutter selbst unbequem werden. Die neue Prärogative, welche der Stamm der Magyaren durch Usurpation für seine Sprache und seine Nationalität in Anspruch nimmt, hat nämlich unter den andern Stämmen Leidenschaften und Reactionen, Verstimmungen und Antipathien, Coalitionen und Alliancen hervorgerufen, welche die Plane und Bestrebungen der bezeichneten Partei bei mehr als einer Gelegenheit durchkreuzen dürften. Nur ihre Schuld wird es sein, wenn die politischen Parteien sich wirklich nach Sprache und Stammesnationalität in verschiedene Lager sondern sollten, was bisher in der Geschichte unsres Vaterlandes nicht vorgekommen, wenn auch, ohne die geringsten Belege dafür aufzuweisen, Dr. H. fabelt: „zur Unabhängigkeit und Freiheit des Landes hätten die andern Völker des Reichs gar nichts beigetragen, vielmehr von jeher sichtlich hemmend und verderbend eingewirkt.“

 Ferner hat diese ihre Lieblingsidee, die Alleinherrschaft der magyarischen Nationalität, der liberalen Partei selbst den klaren Blick, die ruhige Einsicht in das, was dem Gesammtvaterlande Noth thut, getrübt und sie an consequenter Durchführung ihrer liberalen Grundsätze gehindert, sobald nämlich eine liberale Maassregel, für die sie im Princip hätte stimmen müssen, wie z. B. die Abschaffung der Aviticität, die Erweiterung der politischen Rechte der untern Stände u.s.w. mit der Nationalitätsfrage in Conflict gerieth und der Ausbreitung des magyarischen Elementes nicht günstig schien. Dann haben auch die Ultras bei ihrem Bestreben, die Nationalität zu heben, nur zu sehr durchblicken lassen, dass es ihnen hauptsächlich um Kräftigung und Einheit im Lande im rein oppositionellen Sinne gegen die Regierung zu thun ist.

 Der hauptsächlichste Missgriff, den diese Partei jedoch gemacht, ist, dass sie das Verhältniss Ungarns zur Gesammtmonarchie und zum europäischen Staatensystem nicht nach der wahren Sachlage auffasst. Je höher diese Beziehungen liegen, je folgenreicher und wichtiger sind die Wirkungen, die von Irrthümern in dieser Hinsicht ausgehen. Ungarn hat seine Selbstständigkeit und Unabhängigkeit nach aussen durch den Verband mit der Gesammtmonarchie gesichert; als bedeutsames Glied derselben kann es in partielle Kriege nicht verwickelt werden. Für den abnormen Zustand des Krieges ist somit gesorgt; für den normalen des Friedens zum Theil durch die Verfassung, insofern diese eine selbstständige Administration garantirt; aber was gänzlich fehlt, ist eine solche Regelung und Uebereinkunft mit den andern Theilen der Gesammtmonarchie, der wechselseitigen industriellen und commerciellen Verhältnisse und Interessen, wie sie das Wohl des Landes dringend erheischt. Das Colonialsystem, von dem Kaiser Joseph Ungarn

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/188&oldid=- (Version vom 3.11.2018)