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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

gemacht haben, zugänglich werden. Auf die grosse Masse eines jeden slawischen Volkes können daher die Leistungen aller übrigen immer nur mittelbar wirken; sie können ihm nur in dem Lichte der eigenen Nationalität erscheinen. Da nun, wie bereits erwähnt worden, den slawischen Völkern ausser den literärischen Interessen nichts gemeinschaftlich ist, so ist es offenbar, dass es, wie an einem Mittel, dem Begriffe eines allgemeinen Slawenthumes auch unter den Ungebildeten Eingang zu verschaffen, ebenso an einer Idee fehlt, welche (abgesehen von dem Falle unduldsamen Druckes von aussen) die Gemüther der grossen Menge dafür entflammen könnte. Ein allgemeines slawisches Nationalgefühl kann daher immer nur in der Brust des gebildeten Slawen leben; dadurch wird es mittelbar für den Zustand der slawischen Völker und für den Einfluss, den sie auf die Entwicklung des Menschengeschlechtes zu üben bestimmt sind, zwar von grosser Wichtigkeit sein, aber eine Tendenz nach politischer Vereinigung niemals enthalten. Der Glaube an diese kann nur bei einer oberflächlichen Beobachtung bestehen, die Natur der Dinge widerspricht ihr.“

 Unter diesen Umständen nun fragen wir, was berechtigt Deutschland, die panslawistischen Bewegungen bei ihren Landesbrüdern mit besorglichen, argwöhnischen Augen zu beobachten? Was veranlasst die deutsche Presse, Befürchtungen gegen die Westslawen zu äussern, als arbeiteten sie den Russen in die Hände? Befürchtungen, deren Grundlosigkeit ja bei einer sorgfältigeren Betrachtung unserer Verhältnisse in der Gegenwart in die Augen springt? – Wir hoffen auf eine bestimmte Antwort, aber auf eine ruhige, der Würde des Gegenstandes angemessene, wohlbegründete, von Vorurtheil freie Antwort, damit wir in gleichem Tone ihr zu entgegnen im Stande sind. „Wahrheit! – Verständigung!“ –



II.
Wissenschaften.
1. Schafarik's slawische Alterthümer.
(Beschluss zu S. 15.)

 2. Abschnitt. Die russischen Slawen. §. 27. Uebersicht ihrer Geschichte. Die russischen Slawen bildeten vor ihrer Vereinigung unter Rurik viele einzelne, von einander durch Abstammung und Sprache verschiedene Völkerschaften, welche „gewissermassen ein Bild des gesammten Slawenthums darstellten.“ Ihre Namen sind bei Nestor und den spätern Chronisten nur zum Theil aufgezeichnet; einzelne haben sich bis zur Stunde erhalten. Dieses sind die Winidarum natio populosa des Jornandes und die ἔθνη τὰ Ἀντών ἄμετρα des Prokopios. Nach den Nachrichten der Byzantiner waren besonders letztere berühmt durch ihre Tapferkeit und dienten schaarenweise als Söldner in den griechischen Heeren (der Name Anta bedeutet sogar bei den Germanen einen Riesen). Der Einfall der Awaren von der Wolga her (um 560) zwang die Slawen bald, ihre ganze Macht gegen diese zu wenden; nach den Worten Menander’s wurden sie von ihnen zwar besiegt und ihr Land ausgeplündert, nie aber dasselbe erobert, dass es ihr beständiges Besitzthum geworden wäre. Nur einzelne Stämme unterlagen ihnen gänzlich, wie z. B. die Dulebier (zwischen 563 u. 584). Nach dem Falle der hunnischen Macht lebten die russischen Slawen im Vollgenusse ihrer Freiheit ausschliesslich dem Ackerbau, dem Handel und den Gewerben bis zum zweiten Vierttheil des VIII. Jahrhundertes, wo die südlichen Stämme bis zum Dnjepr und der Oka von den Kosaren unterworfen wurden. Während der Osten und Süden so von asiatischen Feinden beunruhigt wurde, litt der Nordwesten des

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/106&oldid=- (Version vom 29.8.2019)