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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

zusammengenommen, bilden die panslawische Sprache, die in ihrer Reinheit darzustellen und als gelehrte oder Schriftsprache einzuführen nicht eine Chimäre ist, wie man so gern glauben machen will; die Slawen haben einen gemeinsamen Nationalcharakter, der, ein Resultat der verschiedenen Individualitäten der slawischen Völkerschaften, einen einigen, harmonischen Nationalgeist darstellt, aber zugleich durch seine eigenthümlichen Grundzüge von dem der andern europäischen Nationen sich scharf unterscheidet; beides jedoch, der slawische Nationalgeist wie die slawische Sprache sind durch die widrigen Geschicke der Nation mit dieser zugleich zerrissen, zersplittert worden. Es fehlt ihr das gemeinsame Verbindungs- und Vereinigungsmittel. Dieses ist die Literatur. Die Slawen sollen eine gemeinsame Literatur haben: in ihr muss sich jener Nationalgeist kund geben, in ihr jene panslawische Sprache sich ausbilden. Die Slawen haben einen gemeinsamen Beruf in der Weltgeschichte, dessen Erfüllung sie nur durch Anstrengung aller Kräfte der ganzen Nation erreichen können; und die Nationalliteratur muss ihr auf dem Wege, den sie wandeln soll, Führerin sein. Diess sind die grossen Ideen, welche das Wesen des Panslawismus bilden. In den einzelnen Slawinen nun alles aufzusuchen, was in ihnen ächt Slawisches vorhanden ist, und diesen Elementen allmählig das Uebergewicht zu erringen über die fremdartigen, später in sie eingedrungenen Spracheigenthümlichkeiten; in dem Charakter jeder einzelnen slawischen Völkerschaft (in ihren National-Liedern, Mährchen, Sagen, in ihrer Literatur, in ihrem Privat- und Staats-Leben) Alles auszuforschen, was sie mit den übrigen Gemeinsames hat und dieses mit besonderer Sorgfalt in Wort (Schrift) und That geltend zu machen; auf diese Weise also einestheils alle einzelnen Dialekte von ihren fremdartigen Formen zu säubern und sie wieder rein-slawisch darzustellen, und andertheils die ächten nationellen Elemente in jeder geistigen Entwickelung ausschliesslich zur Herrschaft zu bringen, damit alle Slawen von jedem geistigen Vorwärts-Streben aller slawischen Völkerschaften gemeinsamen Nutzen ziehen und sich so vorbereiten, die erhabenen Zwecke auszuführen, um derentwillen das höchste Wesen diese grosse Nation in die Welt gesetzt hat: das ist der Innbegriff und die Schlussidee aller Bestrebungen des Panslawismus, wie wir ihn auffassen und wie man ihn – nach unserer Ansicht – nicht anders auffassen kann, wenn man sich nicht an der Wahrheit, an der Pflicht, an dem Heile der Nation selbst versündigen will. Und ein solches Streben ist weder moralisch-schlecht, noch politisch-verwerflich; wir sind berechtigt, nach diesem Ziele, auf diesem Wege zu ringen, wir sind verpflichtet dazu. Denn wenn wir mit einer gewissen Beschämung auf den geringen Grad der geistigen Entwickelung hinblicken müssen, zu welcher sich unsere Nation bis auf diesen Augenblick erhoben hat, und wenn wir uns selbst und unseren Vorfahren die bittersten Vorwürfe zu machen haben, dass wir in vieler, vieler Hinsicht hinter unseren westlichen Nachbarn zurückgeblieben sind: so ist es ja eben unsere heiligste Pflicht, den Fehler, so viel in unseren Kräften steht, wieder gut zu machen, und das Versäumte nachzuholen in dem möglichst kürzesten Zeitraume. Und welcher Vernünftige wollte da wohl läugnen, dass eine Entwickelung im nationalen Geiste, durch das Mittel der nationalen Sprache, auf dem Wege einer gemeinsamen, grossartigen, allumfassenden Literatur, einzig und allein zu diesem Ziele uns zu führen im Stande ist? Aber gerade um dieser letzteren Wahrheit willen wittert die Politik eine Gefahr in der Thätigkeit des Panslawismus. Und ist es denn wahr, dass eine geistige, eine literarische Einigkeit auch die politische Einheit so unbedingt und nothwendig fodere? Ich dächte, Deutschland mit seinen 38 Staaten läge uns zu nahe, als dass wir eine Antwort auf diese Frage geben müssten. Und kann man nicht ein guter Bürger des Staates sein, trotz dem, dass der grössere Theil des Vaterlandes, oder vielleicht nur die Regierung eine andere Sprache spricht? Ist der Elsasser darum weniger deutsch, weil er in Paris die Hauptstadt seines Landes hat? Und sollte er sich gleichwohl etwa sehnen, lieber ein preussischer oder östreichischer Unterthan, als ein französischer Staatsbürger zu sein? Die Antwort mag

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/103&oldid=- (Version vom 3.11.2018)