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zur Freyheit, eine Abschleifung seiner Rohigkeit nöthig; bey dem Thier hingegen wegen seines Instinktes nicht.

Der Mensch braucht Wartung und Bildung. Bildung begreift unter sich Zucht und Unterweisung. Diese braucht, soviel man weiß, kein Thier. Denn keins derselben lernt etwas von den Alten, außer die Vögel ihren Gesang. Hierin werden sie von den Alten unterrichtet, und es ist rührend anzusehen, wenn, wie in einer Schule, die Alte ihren Jungen aus allen Kräften vorsingt, und diese sich bemühen, aus ihren kleinen Kehlen dieselben Töne herauszubringen. Um sich zu überzeugen, daß die Vögel nicht aus Instinkt singen, sondern es würklich lernen, lohnt es der Mühe, die Probe zu machen, und etwa die Hälfte von ihren Eyern den Kanarienvögeln wegzunehmen, und ihnen Sperlingseyer unterzulegen, oder auch wohl die ganz jungen Sperlinge mit ihren Jungen zu vertauschen. Bringt man diese nun in eine Stube, wo sie die Sperlinge nicht draußen hören können: so lernen sie den Gesang der Kanarienvögel, und man bekommt singende Sperlinge. Es ist auch in der That sehr zu bewundern, daß jede Vogelgattung durch alle Generationen einen gewissen Hauptgesang behält, und die Tradition des Gesanges ist wohl die treueste in der Welt[1].


  1. Was Kant hier von den Sperlingen sagt, könnte gewissermaßen noch weiter ausgedehnt werden, auch auf andere Thiere. So will man bemerkt haben, daß z.B. Löwen, die sehr jung eingefangen werden, nie ganz in der Art, wie ältere, und später ihrer Freyheit beraubte Löwen, brillen. Dabey müßte denn aber noch erst ausgemittelt werden, wieviel davon auf Rechnung der veränderten Lebensart kommt, die nicht ohne Würkung auf eine noch unvollendete Organisation, auf ein noch nicht völlig ausgebildetes Thier bleiben kann. Das hier von den Sperlingen Gesagte gilt auch nur mit Einschränkung. Nie wird man seinen Gesang für den eines würklichen Kanarienvogels zu nehmen im Stande seyn. Naturam furca expellas, et tamen usque recurrit. Selbst bey den Blendlingen einer Vogelrace treten merkliche Verschiedenheiten ein. S. Girtauner S. 341.
              d. H.
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Immanuel Kant: Über Pädagogik. D. Friedrich Theodor Rink, Königsberg 1803, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Immanuel_Kant_%C3%9Cber_P%C3%A4dagogik_K%C3%B6nigsberg_1803.pdf/10&oldid=- (Version vom 1.8.2018)