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Rudolf Lavant: Weihnachten zweier Glücklichen (Rudolf Lavant)

dem Dorfe Rocca zu. Es war unser alter Bekannte Robert, aber diesmal war er ein Bild fast übermüthiger Jugendfrische und die leicht gerötheten Wangen und das blitzende Auge, die kecke Art, den Bergstock über die Schulter zu werfen und die rasche Marschmelodie, die er vor sich hinsummte, Alles bewies, daß er sich in der glücklichsten und angeregtesten Stimmung befand. Ein wirres feines Schneetreiben lag in der Luft und puderte ihm Bart und Kopfhaar und hinderte die Fernsicht, aber es war, als würde ihm der wildeste Tumult der Elemente ein Fest sein, so lebte jeder Nerv an dem jugendlich-elastischen Körper. Plötzlich blieb er stehen und legte die Hand vor die Augen, um schärfer hinsehen zu können und – „Felice!“ brach es wie ein Schrei von seinen Lippen und er warf den Bergstock weg und lief wie ein Reh auf eine Mädchengestalt zu, die ihm entgegengekommen und plötzlich, wie in den Boden gewurzelt, stehen geblieben war. Als er sie erreichte, war sie bleich wie eine Wand und zitterte am ganzen Körper, aber als er seine Arme um ihren Nacken schlang und seine bärtigen Lippen auf ihren schönen frischen Mund preßte, jauchzte sie auf: „Robert!“ und hielt sein Gesicht zwischen beiden Händen von sich, um ihm tief in die Augen sehen zu können, und ein wunderbar glückseliges Lächeln blühte in dem sich wieder färbenden Gesicht auf.

„Wie gut, daß Du heute kommst!“ sagte sie dann, „denn morgen hättest Du mich nicht mehr getroffen und ich hätte Dich nicht noch einmal gesehen, ehe ich hinausgehe in die weite Welt. Und doch ist mir der Abschied von Rocca nur schwer geworden, weil ich nun nicht mehr stundenlang in dem Zimmer sitzen kann, in dem Du gewohnt hast, um hier Deutsch zu lernen und an Dich zu denken.“

„Ja, hast Du nicht gedacht, daß ich einmal wiederkommen würde?“

„Nein – nie, ich würde das für eine eitle, wahnsinnige Hoffnung gehalten haben.“

„Aber wozu dann Deutsch lernen, mein lieber, allzuvernünftiger Schatz?“

„Ich wollte mich in die deutsche Art, zu fühlen, die mir an Dir so gut gefallen hatte, noch tiefer hineinleben und dazu mußte ich wohl Deine Sprache lernen. Du hattest mich ja dem Geiste nach zu einer Deutschen gemacht.“

„Und wenn Du gedacht hättest, daß ich wiederkäme, hättest Du Dich nicht mutterseelen allein mit der Grammatik abgeplagt, sondern lieber bei mir Stunde genommen?“

Sie lächelte und erröthete: „Ich glaube wohl. Immer von Dir lernen zu können, muß ja wunderschön sein und ich weiß so wenig, daß Du –“

„Nicht Langeweile bekommen wirst. Das glaube ich auch und ich werde sehen, was ich als Schulmeister leisten kann. Aber darüber reden wir später. Jetzt sollst Du mir zunächst sagen, wohin Du gehst.“

„Zunächst nach Vigo im Fassathal, zu einer alten Base, die mich wohl ein paar Tage behalten wird – dann weiter, recht weit fort, denn in Rocca ist’s für immer aus. Alberto ist wiedergekommen, als Du kaum fort warst, und nun hat’s Tag für Tag Sturm gegeben – Bitten, Thränen, Versprechungen, Drohungen, Vorwürfe, und weil ich heute Abend mein Jawort habe geben sollen, bin ich davon gegangen, mag daraus werden was will. Siehe, ich hab’ nur das Allernöthigste von Wäsche in dem Bündelchen mitgenommen und die Paar Gulden, die ich mir erspart, denn ich mußte heimlich fort, sonst hätten sie mich am Ende mit Gewalt zurückgehalten.“

Robert lachte trotzig auf. „Das werden sie nun schon bleiben lassen. Jetzt bin ich bei Dir und ich habe auch einen harten Kopf – glaubst Du das?“

„Ja, jetzt bist Du noch bei mir, aber Du gehst doch nicht meinen Weg.“

„Doch – wenn Du mich nämlich mitnimmst. Wir gehen zusammen nach Vigo, dann nach Tiers und Blumau und von dort fahren wir immer nach Norden, bis wir am Meer und in Lübeck sind, bei lauter Protestanten, die lange nicht solche Heiden sind, wie Euer Kaplan behauptet.“

Dem Mädchen, das sich seiner Zärtlichkeit nur deshalb so willenlos überlassen hatte, weil es sich dieses Wiedersehen, dem die Trennung für immer folgen mußte, nicht verkümmern und verkürzen mochte, kam jetzt die erste Ahnung davon, daß Robert gekommen sei, sie sich heimzuholen, und sie sah ihn an, als müsse sie in seinen untrüglichen ehrlichen Augen lesen, ob er im Ernst oder im Scherz gesprochen. Sie fragte stockend, mit brennenden Wangen:

„Robert, ich soll Deine –?“

„Meine Frau werden, natürlich – ist denn das so wunderbar, daß es Dir nicht in das kluge Köpfchen will? Als ich Dich verließ, da hab’ ich’s freilich noch nicht gewußt, da hab’ ich gemeint, daß unsere Lebenswege nun für immer auseinandergingen. Aber als ich erst wieder daheim war und die Tage so träge dahinschlichen, und die Sehnsucht nach den Bergen, d. h. nach Dir, immer brennender und unstillbarer wurde und ich Tag und Nacht an Dich und Deine ernsthaften Augen denken mußte, da hab’ ich mich kurz gefaßt und den Eltern rund heraus gesagt, daß ich wieder fort müßte nach Tirol, um mir meine Frau zu holen. Nach ihrem Sinn war’s freilich nicht und durch manches gehätschelte heimliche Plänchen hat’s einen dicken Strich gemacht, aber sie haben sich drein ergeben und wollen nicht eher ein entscheidendes Wort sprechen, als bis sie Dich gesehen haben. Laß es drauf ankommen, Liebste; wenn ihr euch vertragt und Gefallen aneinander findet, soll mir’s von Herzen lieb sein, ist’s damit nichts, so gehen wir fort, irgendwo hin, wo Dir’s gefällt. Ich werde doch nicht der Thor sein, Dich wieder herzugeben, nun ich Dich endlich habe.“ Und er legte seinen Arm um ihren Leib, zog sie sanft an sich und küßte ihr jedes einzelne Wort übermüthig von den Lippen.

„Was wäre das aber für eine Geschichte geworden, wenn ich Dich nicht mehr angetroffen hätte, oder Du den Alberto geheirathet hättest und ich unverrichteter Sache wieder heimgekommen wäre – ich wäre ja blamirt gewesen bis in die Knochen.“

Je gesprächiger Robert ward, desto tiefer ward die Stille, die über das Mädchen kam. Sie ging an seiner Seite, hörte ihm fast andächtig zu und ein träumerisches Lächeln irrte um ihre vollen Lippen, während ihre Augen wie in eine endlose, liebliche Ferne sahen. Ihre hohe, schlanke, fast stolze Gestalt schien unter der Last des Glückes zu erliegen, denn ihr Haupt war gesenkt, aber ihre Hand schmiegte sich in die des Geliebten, als könne sie den lieben Platz selbst im Schlafe nicht aufgeben, und als sie in Vigo in das niedrige Stübchen der Base traten, die ihnen verwundert gegenüberstand und dem fremden Mann sein Geheimniß abfragen zu wollen schien, da lag keine Spur von Triumph und Stolz, keine Spur auch nur der herkömmlichen „jungfräulichen Verschämtheit“ in den Worten, mit denen sie ihn vorstellte, sondern es war, als sage sie träumerisch und mechanisch eine Lieblingsstelle aus einem Gedicht her und berausche sich an dem Klang der halb mystischen Worte.

Die alte Base, die sich schneller in die Lage zu finden verstand und rasch ein großes Wohlwollen für den blonden Nordländer faßte, der so bescheiden, aufmerksam und zärtlich war und dem die „reellen Absichten“ an die hohe, freie Stirn geschrieben waren, schüttelte über die wunderliche Braut den Kopf, die ihr lauter verkehrte Antworten gab, während sie sich mit dem Geliebten durch ein Nicken und einen Blick zu verständigen wußte. Robert aber ruhte nicht, bis ein kleiner Tannenbaum herbeigeschafft war, den er, über das eigene Ungeschick wie ein Kind sich freuend, über und über mit Lichtern besteckte und mit den zierlichen und werthvollen Geschenken behängte, die er seinem Rucksack entnahm. Und als der Duft der Nadeln und der Wachskerzchen das kleine verräucherte Gemach erfüllte und das schöne Mädchen mit thränenverschleierten Augen die märchenhafte Bescheerung angestaunt hatte, die ihr am Abend desselben Tages in den Schooß fiel, der sie heimath- und obdachslos gemacht hatte, da stand auch sie auf und holte aus dem Bündelchen, mit dem sie aus Rocca wie eine Landstreicherin geflüchtet war, die deutsche Grammatik, die schon ordentlich zerlesen war, und die sauber geschriebenen Uebungshefte und endlich, in Seidenpapier eingeschlagen, den Bergstrauß und die Landschaftsskizze, die am Scheidetage ihr bittersüßer Trost gewesen waren und die sie mit hatte nehmen wollen in die fremde Welt jenseits der Berge.

„Das ist Alles, was ich Dir geben kann, Robert – aber ich gebe Dir meine ganze Seele damit, denn jetzt fühle ich, daß ich mich Dir geben, daß ich Dich lieben muß und daß ich also nach Deinen eigenen Worten unendlich glücklich sein werde, die glücklichste Frau auf Erden.“

Und sie legte den Kopf an seine Schulter und wußte nicht, daß zwei schwere helle Thränen des reinsten Glücks über ihre Wangen rollten und auf die Hände des geliebten Mannes tropften, dessen Blicke wie verzaubert an dem rührenden Bilde hingen.


Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Lavant: Weihnachten zweier Glücklichen (Rudolf Lavant). Druck und Verlag J.H.W. Dietz, Hamburg 1887, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Illustrirtes_Unterhaltungsblatt_25_12_1887_Seite_4.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)